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Signatur der Moderne - Zu den Arbeiten von Alexander Steig

Bei der Betrachtung der Videoinszenierungen von Alexander Steig habe ich mich daran erinnert, dass der Künstler in den 1990er Jahren in Hannover Malerei und Bildhauerei studiert hat. Wäre er bei der Malerei geblieben, hätte seine Liebe möglicherweise dem abstrakten Expressionismus gehört. An diese Malweise musste ich denken, als ich mich mit seiner Arbeit Kryptós aus dem Jahr 2011 beschäftigte. Eine 1-Kanal Closed-Circuit Videoinszenierung, die Steig zum ersten Mal im Kunsthaus in Luxemburg zeigte. Wie so häufig in seinem Werk treten Ursache und Wirkung in Kryptós in frappierender und Staunen machender Weise auseinander. Die Wirkung, das sind in diesem Fall Videobilder, die tachistische Formen zeigen. Weiße Lineaturen vor schwarzem Hintergrund, die sich jede halbe Sekunde ändern. Wir sehen ruhige und zugleich bewegte Bilder von großer expressiver Kraft, die unsere Aufmerksamkeit fesseln und nicht loslassen. Die Ursachen, denen sie sich verdanken, sind in einem anderen Raum zu besichtigen. Dort schauen wir auf gurgelndes, Luftblasen produzierendes Wasser in einem Eimer. Es wird von einer Halogenlampe beleuchtet, deren Licht die unruhige Wasserfläche bricht. Die dabei entstehenden Bilder nimmt eine Videokamera auf und überträgt sie mit Hilfe eines Projektors auf eine vom Künstler dafür vorgesehene, schwarz grundierte Fläche auf einer Wand im Ausstellungsraum.


Kryptós #2.4, Haus der Kunst, München, 2017

Diese Verbindung von Verzauberung und Ernüchterung, von Poesie und Prosa ist typisch für die Arbeitsweise und Kunst von Alexander Steig. Und sie erinnert mich in all seinen Werken, mehr noch als in der einzelnen Arbeit Kryptós, an die Malerei der New York School. Eine ihrer berühmtesten und bekanntesten Protagonisten war Jackson Pollock, der von einem bestimmten Zeitpunkt an seine Bilder nicht mehr mit dem Pinsel malte, sondern seine Farben auf die am Boden liegenden Leinwände tropfte und schüttete, woraufhin ihn seine Freunde und Künstlerkollegen in großer Anspielungsfreude „Jack the Dripper“ nannten. Das Ergebnis dieser Malweise war das Allover und die Aufhebung einer perspektivisch räumlichen Bildarchitek­tur im klassischen Sinn. Clement Greenberg, der Kritiker und Exeget der New York School, leitete daraus das normative Postulat des Flachmalens ab: „Make it flat!“ Die Maler sollten in ihrer Malerei nicht mit Trompe l’œil und augentäuschenden Tricks arbeiten, sondern den zweidimensionalen Charakter der Leinwand betonen. Die Kunst war gehalten, ihr Instrumentarium zu zeigen und dem Betrachter kein X für ein U vorzumachen. Nach den moralischen Erschütterungen im 20. Jahrhundert wurde Ehrlichkeit für die Kunst zum Gebot der Stunde und in gewisser Weise auch zur Signatur der Moderne.

Zu dieser Art von Aufklärern in der Kunst gehört auch Alexander Steig. Insofern trifft auf den Titel seiner Skulptur Kryptós das schöne Wort von der Zeichenhaftigkeit des Namens – nomen est omen – in doppelter Weise zu. Zum einen wirken die Skripturen der Videobilder wie sich permanent verändernde Kalligrafien, die vom Betrachter entschlüsselt werden wollen. Das altgriechische Wort „kryptós“ bedeutet im Deutschen unsichtbar, verborgen oder versteckt. Zum anderen gilt es mit ihm im Blick aber auch die Wahrheit über die Entstehung der Bilder zu entdecken. Diese Möglichkeit eröffnet der Künstler dem Betrachter bei jedem seiner Werke. Chiffrierung und auch Dechiffrierung, zumindest was ihre Genese angeht, sind in ihnen allen angelegt und für Steig selbstverständlich. Wenn eine große Ausstellung zurzeit unter dem Titel „True Pictures?“ in Hannover, Wolfsburg und Braunschweig nach der Wahrheit der Fotografie fragt, wird deutlich, dass auch sie ihren Bildern nicht vorbehaltlos trauen mag. Zwar nimmt die Kamera bereitwillig alles auf, was sich vor ihrer Linse befindet, aber wie die dabei entstehenden Bilder zu lesen und zu deuten sind, hängt wesentlich von ihrem Kontext ab. Das hat schon Bertolt Brecht gewusst, als er in den 1930er Jahren feststellte: „Eine Photographie der Krupp-Werke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute.“ Und heute weiß es ein Fotograf wie Stan Douglas, der zum Wahrheitsanspruch der Fotografie festgestellt hat: „Manchmal gibt es mehr Wahrheit in der Lüge als in der Dokumentation.“


Leinekiesel - Set, feinkunst, Hannover, 2021

Auch die Videoinszenierung Leinekiesel (2021) in den Räumen des hannoverschen feinkunst-Vereins spielt mit der Differenz von Bildursache und Bildwirkung. Steig führt das in vier Kabinetten vor. Je nachdem, in welcher Reihenfolge man sie besucht, wird man entweder von der Ursache zur Wirkung oder vice versa von der Wirkung zur Ursache geführt. Beginnen wir mit dem Installationsdispositiv, also im Prinzip mit der Ernüchterung oder dem prosaischen Aspekt im Werk des Bildzauberers Steig! Auf einer runden, weißen Pappscheibe sehen wir einen handtellergroßen Kieselstein, umgeben von vier auf ihn gerichteten Kameras. Sie blicken jeweils aus unterschiedlichen Perspektiven auf ihn, was logischerweise dazu führt, dass sie jeweils andere Seiten von ihm zeigen. Schaut der Betrachter auf die Bilder, die sie von dem Stein produzieren, ohne dieses Dispositiv zu kennen, ist das indes keineswegs klar und eindeutig für ihn. In seiner medialen Inszenierung stellt Steig somit auf eminent leichthändige Art die Wahrnehmungsfrage: Was sehen wir eigentlich, wenn wir etwas sehen? Und er stellt zudem auch die Identitätsfrage neu, mit der uns gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Dichter Arthur Rimbaud konfrontiert hat. In den Worten seines berühmten Selbstbefunds: „Je est un autre.“ Ich ist ein Anderer. Dass Steig sich dabei eines Kiesels bedient, den er im Flussbett der Leine gefunden hat, ist als Hommage an seine Geburtsstadt Hannover zu verstehen. Eine ähnliche Inszenierung des Künstlers gab es 2020 auch schon mit einem Kiesel aus der Isar zu Ehren von München, der Stadt, die inzwischen schon lange zu seiner neuen Heimat geworden ist.


Leinekiesel - Findling (Erratic Block) #1.2, feinkunst, Hannover, 2021

Bei der Münchener Ausstellung hat Steig den Isarkiesel in zwei Monitor-Projektionen vorgestellt, die nebeneinander standen. Jeweils aus zwei unterschiedlichen Winkeln gefilmt, zeigte derselbe Kiesel unterschiedliche Seiten von sich, was aber ohne Kenntnis des Dispositivs nicht zu erkennen war. In einem solchen Fall spricht die Wahrnehmungstheorie von numerischer Identität, während sie bei zwei ähnlichen, indes unterschiedlichen Objekten von qualitativer Identität spricht. Beide Identitätsformen hat Steig in verschiedenen Arbeiten thematisiert und vorgeführt. Von numerischer Identität ist auch bei allen Präsentationsformen des Leinekiesels zu sprechen. Am ehesten in Nachbarschaft zum Isarkiesel befindet er sich im feinkunst-Verein, wenn er in einem Raum auf zwei einander gegenüberstehenden Monitoren gezeigt wird. In beiden Bildern liegt der Kiesel dort hell ausgeleuchtet auf weißem Grund, in dem wir, mit dem entsprechenden Wissen ausgerüstet, die weiße Pappscheibe der Installation wiedererkennen. Und daher annehmen, dass es sich bei den beiden einander ähnlich sehenden Steinen um ein und denselben Kiesel handelt, wir sie mithin unter dem Aspekt der numerischen Identität betrachten dürfen. Weiß man nichts davon, wird man auf Grund der unterschiedlichen Perspektiven die Kiesel in den beiden Bildern für ähnlich, aber verschieden halten, also eine qualitative Identität zwischen ihnen vermuten.


Leinekiesel - Leinekiesel (numerisch), feinkunst, Hannover, 2021

Weit weg rückt der Stein von dem ursprünglichen Eindruck, den er bei seiner Demonstration im Installationsdispositiv auf uns macht, in zwei weiteren Räumen des feinkunst-Vereins. Schon auf Grund der Diskrepanz der Größenverhältnisse zwischen dem realen Kiesel und seiner Darstellung in den Projektionen dort. Sie ist am extremsten im letzten Raum. Die Videokamera ist per Weitwinkel ganz dicht an den Kiesel herangerückt. Der Laser-Beamer wirft sein Bild, oder besser die Partie seiner Oberfläche, auf die sich die Kamera bei ihrer Zoom-Aufnahme konzentriert, passgenau an die Wand. Dort, wo der Künstler für die Projektion eine große rechtwinklige Fläche schwarz angestrichen hat. Wie in der Renaissance, als Maler auf dunkel grundierten Leinwänden arbeiteten, bestimmt sie die Bildtemperatur. Je nach Position des Betrachters changieren, beeinflusst vom Laserlicht, dort die Farben. Was wir sehen, ist eine befremdliche und fremdartige Landschaft, so weit weg von uns wie die Oberfläche des Mondes. Karl Kraus mag einem dabei einfallen, mit seinem auf die Sprache gemünzten Bonmot: „Je näher man ein Wort anschaut, desto ferner schaut es zurück.“


Leinekiesel - Wand (Wall), feinkunst, Hanover, 2021

Ähnlich malerisch, indes weit weniger exotisch oder futuristisch, wirkt die Projektion in dem benachbarten Raum. Auch da hat Alexander Steig für das Bild des Kiesels eine schwarze Projektionsfläche vorbereitet. Sie bildet einen dunklen Hintergrund für den Auftritt des Steins, der in naturalistischer Pracht auf einer grauen Fläche liegt. Hinter ihr verbirgt sich einmal mehr die weiße Pappscheibe der Installation, die der schwarze Bildgrund entsprechend verfremdet. Die Aufnahme wirkt in klassischer Manier malerisch. Man hat den Eindruck einer gelungen Allianz von Abstraktion und Gegenständlichkeit, als hätten monochrome Farbfeldmalerei und differenzierter Realismus in ihr zur Einheit gefunden. In dem Raum manifestiert sich am ehesten, was manche Besucher angesichts dieser Installation empfinden: meditative Ruhe und wohltuende Entschleunigung.

Der Eindruck ließe sich ergänzen. Wichtig ist, sich ins Gedächtnis zu rufen, was einem leicht entgehen könnte, nimmt man Steigs Installationsdispositiv nur flüchtig in Augenschein. Die Scheibe, auf welcher der Stein ruht, dreht sich. Sehr langsam, fast unmerklich. Sie braucht 24 Stunden, um sich einmal um die eigene Achse zu drehen. Dieselbe Zeitspanne, auf die der schottische Videokünstler Douglas Gordon Alfred Hitchcocks Film „Psycho“ gedehnt hat. Noch länger gedehnt hat er partiell John Fords Film „The Searchers“: auf die Dauer der Filmhandlung, fünf Jahre. 24 Stunden, das sind ein Tag und eine Nacht. So lange braucht die Erde, um sich bei ihrem Weg um die Sonne einmal um sich selbst zu drehen. Es ist eine mythische Zeiteinheit. In 24 Stunden entfaltet sich die Handlung des „Ulysses“ von James Joyce, einem Jahrhundertroman. Hinsichtlich ihrer extremen Verlangsamung erinnert die Bewegung der Scheibe auch an einen Zustand der Moderne, den der französische Dromologe Paul Virilio als „rasenden Stillstand“ bezeichnet hat, um das entropische Endstadium einer Periode stetiger Beschleunigung zu charakterisieren. Steigs Werk ruft viele Referenzen auf. Indem er durch die Bewegung der Scheibe in seine Installation die Zeit einführt, macht er auf ihre Ausdehnung aufmerksam. Gerade die Verlangsamung, die den normalen Rhythmus der Zeit vergessen lässt und zu ihrer extremen Dehnung führt, macht uns ihren Charakter erst so recht deutlich. Drastisch wird uns vor Augen geführt, was wir sonst kaum wahrnehmen. Dass die Zeit an sich endlos und uferlos ist, aber die Dinge ihre Zeit in ihr haben. Genau wie wir selbst. Angesichts der Ewigkeit, währt unser Leben nur einen Wimpernschlag. Unter diesem Aspekt ließe sich Steigs Installation als modernes Memento mori verstehen.

Zu sprechen ist auch über die armen Materialien dieser Installation. Eine Pappscheibe und ein Kiesel, ein simpler Drehmechanismus, eine Lampe mit starkem Licht, vier Kameras, zwei Monitore, zwei Beamer. Voilà tout. Wäre Alexander Steig, der damals erst geboren wurde, in den 1960er Jahren tätig gewesen, so hätte er zusammen mit Alighiero Boetti, Luciano Fabro, Jannis Kounellis, Giulio Paolini, Pino Pascali und Emilio Prini ausstellen können. Mit all jenen, die der Kunstkritiker und Kurator Germano Celant am 27. September 1967 in einer von ihm in seiner Heimatstadt Genua eingerichteten Schau zum ersten Mal als „Arte Povera“- Künstler bezeichnete, weil sie mit armen, das heißt alltäglichen und gewöhnlichen Materialien ihre Kunst machten. Was hat Alexander Steig in der Vergangenheit nicht schon aus solchen armen Stoffen an Closed Circuit-Installationen gezaubert! 1999 ist er bei seiner Arbeit Über-Wachen sogar fast völlig ohne Hilfsmittel ausgekommen. Dabei hat er auch den Slapstick nicht gescheut, denn neben humanem Engagement ist der Humor kein kleiner Teil seiner Kunst. In der dunklen Gruft eines Mausoleums auf einem hannoverschen Friedhof hatte er damals lediglich eine Videokamera und eine Lichtquelle installiert. Die Kamera übertrug das Bild der leeren Gruft in Echtzeit auf einen Monitor, der über ihr auf einem Urnentisch stand. Wie man hört, gab es indes bei dieser sehr speziellen Form der Überwachung leider keinen Besuch aus dem Jenseits zu protokollieren.


Flying, Eine Deutsche Einkaufspassage, Hannover, 2000

2000 hat Alexander Steig den Jahrhundertwechsel mit minimalen Mitteln in poetischer Weise in den Lüften gefeiert. Ein mit Staub bedeckter, sich drehender Plattenteller und darüber die Papiersilhouette eines Flugzeugs reichten aus, um in Flying seinen Flug über die Weiten einer sandigen Wüste zu simulieren. In der Kunsthalle Worpswede begab er sich später in den kalten Norden. Um in Heimliche Landschaften (2010) auf schwimmenden Eisbergen und unter sternklarem Nachthimmel zu spazieren, nutzte er Leuchtmittel sowie durchlöcherte und geschnittene Kartonagen. Den Rest besorgte die Videokamera. In Luxemburg genügten ihm einige gezeichnete Striche auf Fensterglas und die Aufnahmen einer Villa auf der gegenüberliegenden Straßenseite, um daraus in Haunted House #3 (2010) das Porträt eines Spukhauses zu entwerfen. In Posen ließ seine Kamera 2012 in Sceneries (Landscapes in Repose) aus winzigen Anhäufungen von Sand gewaltige Dünen wachsen. Und in À l’ombre (2014) hat Steig in Brüssel aus der Videoübertragung eines Schlüssellochs unter Einbeziehung der Betrachter das prototypische Drama eines Voyeurs inszeniert. Stets operiert er dabei wie ein Regisseur, der seine eigenen Stücke schreibt. Indem er aber zugleich erlaubt, dass man ihm dabei in die Karten schaut, lässt er an den jungen Brecht denken. Als der in München 1922 sein erstes episches Theaterstück aufführte, ließ er an die Wände schreiben: „Glotzt nicht so romantisch“. Das Publikum sollte mitdenken, nicht nur mitfühlen.


Sceneries - Landscapes in Repose, Galerie k4, München, 2007

Alexander Steig setzt uns mit seiner Kunst in Erstaunen. Damit folgt er einem Rat von Jean Cocteau, der einst einem jungen Künstler, von ihm befragt, wie er es anstellen müsse, in der Kunst erfolgreich zu sein, riet: „Faites-moi étonner.“ Aber zugleich folgt er auch dem ethischen Rigorismus eines Clement Greenberg oder Bertolt Brecht, die immer für Ehrlichkeit in der Kunst plädiert haben und für einen menschenfreundlichen Humanismus. All dies zeigt sich darin, dass Alexander Steig stets die Instrumente und Szenarien seiner Kunst für das Publikum sichtbar macht. Aber auch darin, dass er es mitnimmt und teilnehmen lässt an seiner philosophischen und analytischen Lust am Denken, an der Verwandlung und der Scharade. In seinen Werken sieht man sich nicht nur beim Sehen zu – Visus Visere (2011), das Sehen sehen, hieß in der Vergangenheit eine exemplarische Videoinstallation Steigs für den Kunstraum München. Man lernt nicht allein, seine Wahrnehmung zu analysieren, sondern auch, diese Tätigkeit zu lieben. Ein von ihm mitinitiiertes Symposion widmete sich der Pause und damit dem kreativen Nichtstun. Nichts dürfte für Künstler – doch nicht nur für sie – wichtiger sein, um zu neuen Ideen zu kommen. Marcel Duchamp gab einmal auf die Frage, woran er arbeite, die schöne Antwort: „Je respire.“ Ich atme. Der Humanismus in der Kunst von Alexander Steig zeigt sich aber auch an Projekten, in denen er die Vergangenheit zu seinem Thema gemacht hat. Beispielhaft dafür steht seine Recherche zur Zwangsarbeit im Außenlager Agfa-Kamerawerk München-Giesing des KZ Dachau. Für die Opfer schuf er mit der großen schwarzen Kamera als Memorial ein eindrückliches Zeichen des Gedenkens.


Michael Stoeber

(Katalog: Alexander Steig - Leinekiesel)

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