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Das Sehen betrachten
Zum Werk von Alexander Steig in Salder

Wahrscheinlich charakterisiert als kleinster gemeinsamer Nenner nichts so gut die Werke von Alexander Steig wie der Titel, den er 2011 seinem Ausstellungsprojekt im Kunstraum München gegeben hat: „VISUS VISERE“. Auch wenn es bei der dreiteiligen Videoinszenierung des Künstlers um Kontrolle und Überwachung geht und damit eine politische Thematik intoniert wird, die ihm wichtig ist, greift der lateinische Titel des Werks weiter. Ins Deutsche wäre „VISUS VISERE“ mit „Das Sehen betrachten“ zu übersetzen, womit der Titel das Problem der Wahrnehmung in ganz grundsätzlicher Weise berührt: Was sehen wir, wenn wir etwas sehen? Die Frage nach der Gestalt der Dinge ist ein uraltes philosophisches Problem, und Schein und Sein im Prozess des Sehens auseinanderzuhalten beides: Erkenntnisakt und moralischer Imperativ. Platons „Höhlengleichnis“ legt eindrucksvoll Zeugnis davon ab.

Der Physiker Hermann von Helmholtz hat im letzten Jahrhundert in seiner Theorie des Sehens deutlich gemacht, dass uns das Auge bei der Suche nach der Wahrheit nicht immer hilfreich zur Seite steht. Während von Helmholtz auf der einen Seite rückhaltlos dessen Fähigkeit zur Akkomodation bewundert, beklagt er andererseits die Defizite des menschlichen Auges bei der Wahrnehmung. Da sind beispielsweise die vielen optischen Täuschungen, denen es unterliegt. Das Auge registriert die Welt nicht wie eine camera obscura als reiner Spiegel der Wirklichkeit, wie man früher einmal glaubte, sondern die korrekte Zuordnung optischer Eindrücke erfolgt in unserem Gehirn. Und das kann irren. Eben diese Differenz zwischen dem, was wir sehen, und dem, was ist, als Quelle möglicher Missverständnisse und Irrtümer interessiert Alexander Steig. Der sich bei der Wahrheitssuche als ebenso künstlerischer wie politischer und philosophischer Kopf erweist.

Alexander Steigs Werke in Salder berühren das Feld der Wahrnehmung, aber auch das Problem der Identität, was ja Thema der Ausstellung in Salder ist. Dabei gilt es, zwischen qualitativer und numerischer Identität zu unterschieden. Eine Differenz, auf die der Künstler in den Klammern der Titel seiner neuen Werke verweist. Qualitative Identität bedeutet, einfach formuliert, dass sich zwei oder mehr Gegenstände in allen Eigenschaften gleichen und nicht unterscheidbar sind. Numerische Identität dagegen bedeutet, dass sie in Wirklichkeit ein und derselbe Gegenstand sind. Eine Differenz, die den Künstler auch schon in früheren Werken interessiert hat. Zum Beispiel in „Corner Surveillance“ (2019), in der in einer Closed Circuit-Installation drei Kameras in unterschiedlicher Höhe einen rechten Winkel der Artothek in München filmen. Da es immer andere Abschnitte des Winkels sind, die sie im Einzelnen erfassen, handelt es sich zwischen ihnen um eine qualitative Identität. Die erste Bildreihe des Werks zeigt die drei rechten Winkel bei Tageslicht, die zweite Bildreihe dieselben Winkel bei Nacht. Dennoch wirken sie für das Auge nun völlig anders. Da die drei Kameras bei dem schwächer einfallenden Licht abends in den Infrarot-Modus geschaltet haben, um ihre Gegenstände besser zu erfassen, sehen die Winkel nun bedeutend heller aus. Ihre Konturen treten scharf und körperlich hervor, wo sie vorher nur zart und plan sichtbar waren. Dennoch zeigen die unterschiedlichen Bildreihen dasselbe Sujet. Zwischen ihnen herrscht in verblüffender, aber logischer Weise eine numerische Identität.


Corner Surveillance, 2019, Artothek, München

Bei „Henne und Ei“ (2017), ebenfalls eine ältere Arbeit, ist eine Kamera fest auf denselben Ort in einem Hühnerstall gerichtet. Aber die Bilder, die sie von dem mit sich selbst identischen Ort macht, ändern sich. Wir sehen erst ein Huhn, dann ein weiteres, schließlich zwei Eier. Bei scheinbar völliger Identität lieben wir es zu sagen, die Dinge glichen sich wie ein Ei dem anderen. Aber selbst wenn die Eier hier von ein und demselben Huhn und nicht von beiden Hühnern wären, hätten wir bei ihnen eher von qualitativer als von numerischer Identität zu sprechen.


Henne und Ei, 2017, Remise, Axstedt

Und wie ist es bei „Isar-Kiesel“ (2019), der neuen Arbeit von Alexander Steig für den Salon Salder? Bei ihm handelt es sich um denselben Stein, von zwei Kameras aus unterschiedlicher Perspektive gefilmt, womit die Sache klar ist. Numerische Identität! Und die „Kante“ (2019) eines Raums, ebenfalls neu, von welcher der Künstler zwei unterschiedliche Abschnitte gefilmt hat, um sie danach von der Vertikalen in die Horizontale zu kippen? Qualitative Identität! Wobei sich die Anmutung der Bilder durch diesen Eingriff geradezu fundamental geändert hat. Vom Interieur zum Exterieur, von der Architektur zur Landschaft.


Isarkisel (numerisch), 2019, Schloss Salder, Salzgitter


Kante (qualitativ), 2019, Schloss Salder, Salzgitter

Mit diesem Bravourstück illustriert Alexander Steig zugleich leichthändig den kanonischen Befund von Arthur Rimbaud zur Identität der Moderne, der politischer nicht sein könnte: „Ich ist ein anderer.“

Michael Stoeber

(Katalog: Salon Salder 2019)

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