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Who's Next?

Zur Kunst: der junge hannoversche Videokünstler Alexander Steig zeigt uns das Diorama eines sozialen Ortes. Hinter einer Glasscheibe betrachten wir eine Schreibstube. Karg eingerichtet, auf die notwendigen Utensilien beschränkt, scheint sie weniger die Klause eines Gelehrten als die eines Büroangestellten. Daß wir hier mutmaßen müssen, liegt daran, daß Steig uns den Bewohner dieser Schreibstube vorenthält. Der Raum ist menschenleer, und die Dinge organisieren sich zum Bild wie auf einem Stilleben. Aus ihrer Physiognomie müssen wir auf den abwesenden Benutzer schließen.


break #2, 2003, Foro Artistico, Internationales Medienkunstforum, Hannover

Daß die Dinge Zeichencharakter haben, daß sie nie nur für sich stehen, sondern verweisen, diese Einsicht trägt die großartigen Porträts in den Romanen des neunzehnten Jahrhunderts. Vor allem bei Balzac erfahren wir, wie die Kleider eines Menschen und die Art, wie er sie trägt, wie die Wohnung, in der erlebt und die Art, wie er sie einrichtet, ihn charakterisieren. Noch bevor wir über Rastignacs Wesen - einer von Balzacs Protagonisten in seiner grandiosen "Comédie humaine" - Genaueres aus seinen Handlungen erfahren, haben wir uns schon ein Bild von ihm gemacht durch die Art, wie er wohnt und sich kleidet, wie er geht und steht, ißt und spricht.

Die Klause eines Büronagestellten also. Eine aus vergangener Zeit. Die Dinge, obwohl sie aus den vierziger, fünfziger Jahren zu stammen scheinen, als die Telefonhörer noch auf Gabeln ruhten und die Nummern per Drehscheibe gewählt wurde, entfalten eine Aura, die atmosphärisch noch weiter zurückreicht. Zu jener Zeit etwa, als Herman Melvilles "Bartleby the Scrivener", Bartleby der Schreiber, in einer New Yorker Anwaltskanzlei seine Kopierarbeiten erledigt. Jener blasse unzugängliche Mann, der mit seinem leitmotivartig wiederholten Satz "I would prefer not to" (Ich möchte lieber nicht) sich jeder Tätigkeit außerhalb seiner Schreibroutine verweigert und mit seinem lakonischen, unpathetisch vorgetragenen Pathos der Verweigerung zu einem Helden der Moderne wird. Wir können natürlich in dieser Klause auch die Urzelle der Behausungen sehen, in denen die von Siegfried Kracauer 1929 beschriebene neue Kaste der Angestellten zum großen Teil ihren beruflichen Alltag fristete. Jene Kaste, die nach Kracauer durch den Grundwiderspruch charakterisert ist, einerseits immer stärker proletarisiert zu werden, andererseits vom Produktionsprozeß ausgeschlossen zu sein.


break #2, 2003, Foro Artistico, Internationales Medienkunstforum, Hannover

Während wir noch diesen Gedanken nachhängen, belebt sich das schweigende Bild. Das schwarze Telefon in Steigs Installation schrillt insistierend, ohne daß irgendwer es beantworten würde. Schließlich verstummt es, nur um irgendwann wieder zu läuten. An dieser Stelle wird das Sozialdiorama zum Bühnenbild, zum Setting, in dem in jedem Augenblick alles Mögliche passieren könnte.

Diesen Charakter, Bild in einer erzählerischen Kette zu sein, in einem narrativen Syntagma, ein Bild, das einen Augenblick lang ruhig gestellt war, auf Pause - gebreakt sozusagen, sehen Sie sich den Titel des Werkes an - diesen Charakter forciert energisch der zweite Teil der Steig-Arbeit. In einem an ein Puschenkino erinnernden Raum sehen wir per Direktübertragung das Büro als Kinobild. Steigs Wahl eines dramatischen Schwarzweiß für dieses Bild und der sorgfältig gewählte Ausschnitt mit den geschickt arrangierten Schatteneffekten, verstärken den Eindruck der Inszenierung. Auch jetzt ertönt das schrille Läuten des Telefons. Aber der Gedanke an die Typologie eines bestimmten Büroarbeiters oder gar an die Kaste der Angestellten rückt in weite Ferne. Jetzt denken wir mit dem bildnerischen Fokus auf das Telefon an den Film noir, etwa an Hitchcocks bei "Bei Anruf Mord".

Durch die Nebeneinanderstellung eines identischen Bildes in unterschiedlichen Präsentationsformen setzt Steig beim Betrachter Irritations- und Reflexionsprozesse in Gang. Nicht nur über die Art, wie die Dinge sind und wie wir sie wahrnehmen, das uralte Problem von Sein und Schein in Kunst und Philosophie, sondern auch darüber, wie das Medium, in dem sie sich präsentieren, in dem sie präsentiert werden, dazu beiträgt, ihren Status zu verändern. (...)

Michael Stoeber

(Eröffnungsrede anläßlich der Ausstellung Who's Next? mit Jan Peter E. R. Sonntag/Peter Carp im Foro Aristico, Internationales Medienkunstforum, Hannover, 2003)

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