aktuell cv arbeiten texte home

 

Glockenspiel

Der 1968 in Hannover geborene Künstler Alexander Steig gehört der ersten Künstlergeneration an, die mit dem Massenmedium Fernsehen aufgewachsen ist. Ohne pädagogischen Hintergedanken, ohne erhobenen Zeigefinger, der einen dosierten Umgang mit der "Glotze" anmahnt, und ohne Berührungsängste gegenüber der Unterhaltungskultur hat sich der Künstler seit den 90er Jahren kritisch dem Massenmedium Fernsehen zugewandt, ohne jedoch die davon ausgehende Faszination zu unterschlagen. In einer Reihe von Ausstellungen national und international sind Arbeiten entstanden, die trotz ihrer häufig "minimalistischen" Erscheinungsform eine umfassende Auseinandersetzung mit dem Gebrauch des Mediums Fernsehen in unserer gegenwärtigen Kultur anzuregen vermochten. Wo Fernsehmonitore und Videokameras nicht nur dem Vorführen von Urlaubsfilmen dienen, sondern gleichzeitig auch Teil von Überwachungsanlagen sein können, wo sich Fernsehkultur zwischen Hollywood und Reality-TV abspielt, da eröffnet sich der Kunst ein Experimentierfeld, in welchem sich Wirklichkeit und Fiktion in eine spannungsreiche Beziehung setzen. Dem Verhältnis verschiedener Wirklichkeitsebenen zwischen Realität und Fernseh-Realität hat Alexander Steig sich besonders in den letzten Jahren immer wieder gewidmet. Für den Kunstverein Syke konzipierte und realisierte Alexander Steig im März 2002 seine Arbeit GLOCKENSPIEL.

Im Vorfeld der Ausstellung erfolgte eine Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten in der Stadt Syke und die Suche nach einem geeigneten Bereich für eine Installation im öffentlichen Raum. Steigs Wahl fiel weniger auf einen einzelnen Ort als vielmehr auf einen räumlichen Zusammenhang, der sich zwischen dem Torbogen des Kreishauses und der Kirche in etwa 300 Meter Entfernung ergab. Der Künstler hatte sich damit für eine Schnittstelle entschieden, an welcher sich der historisch gewachsene Ortskern mit der Infrastruktur einer Einkaufszone zu vermischen beginnt. Ausschlaggebend für diese Wahl war vor allem die Blickachse vom Torbogen zur Christuskirche.

An der linken Ausgangsseite innerhalb des Torbogens montierte Steig einen kleinen Schwarzweiß-Monitor, auf dem ein zunächst nicht genau identifizierbares Bild zu sehen war. Bei genauer Betrachtung ließ sich der Teil eines Glockenwerkes im Halbdunkel eines roh gemauerten Raumes erkennen. Zusätzlich befand sich ein Lautsprecherpaar im Torbogen.

Steig hatte im Innenraum des Glockenturms der Syker Kirche eine Videokamera auf das Glockenspiel gerichtet und den gewählten Ausschnitt, die Trostglocke, die jeweils zur vollen Stunde geschlagen wird, auf den Monitor im Torbogen übertragen. Diesen Zusammenhang galt es jedoch für den Betrachter erst herzustellen, etwa wenn zur vollen Stunde sowohl vom in Sichtweite befindlichen Glockenturm als auch aus den Lautsprechern nahezu synchron der gleiche Glockenschlag zu hören war und sich für einen Augenblick das ansonsten ereignisarme Fernsehbild zu bewegen begann, indem der Hammer den Glockenrand anschlug.

Das gleiche Ereignis, einmal in natura, einmal als mediale Direktübertragung, rief unterschiedliche Eindrücke hervor, von denen letztlich nicht mit Bestimmtheit zu sagen war, ob sie überhaupt von ein und derselben Quelle herrührten. Zweifel regten sich. Das reale Ereignis des Glockenschlags, der für gewöhnlich zwar hörbar, nicht jedoch sichtbar ist, veränderte sich durch den ungewohnten Einblick, den der Bildschirm dem Betrachter ermöglichte. Auch war es dem Betrachter in den Phasen zwischen den vollen Stunden nicht ohne weiteres möglich, zwischen einer Direktübertragung und einem Standbild zu unterscheiden. Der viertelstündliche Schlag einer Glocke außerhalb des Bildausschnittes überraschte darum als "Ereignis" einer ansonsten nicht vorhandenen Dramaturgie.

Die Parallelität des Ereignisses in zwei unterschiedlichen Erscheinungsformen ermöglicht dem Betrachter die Reflexion seiner eigenen Seh- und Wahrnehmungsmuster. Der Fernsehmonitor, der für gewöhnlich Garant für eine nie endende Abfolge von immer neuen Bildern ist, irritiert durch das weitestgehend unbewegte Bild unsere Erwartungshaltung. Darum wirkte die ereignislose Zeit zwischen den Glockenschlägen nahezu endlos. Auf der anderen Seite schien es erst das Fernsehbild zu sein, das unsere Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand - hier den Glockenturm - lenkte, der in der alltäglichen Gewohnheit häufig gar nicht mehr wahrgenommen wird.

Alexander Steigs Interesse ist nicht auf das Erproben technischer Machbarkeit gerichtet; sein Augenmerk richtet sich nicht auf die Möglichkeiten virtueller Bildproduktion. Vielmehr arbeitet der Künstler in seinen Installationen mit Fernsehbildern, die durch ihren "Minimalismus" irritieren und dem Betrachter dadurch buchstäblich eine Auseinandersetzung mit seiner eigenen Wahr-Nehmung ermöglichen: Was ist wahr an dem, was sich gerade auf dem Monitor abspielt? Auch in früheren Arbeiten hat sich Steig mit den verschiedenen Wirklichkeitsebenen und den daraus resultierenden Wahrnehmungsweisen beschäftigt, zum Beispiel in seiner Arbeit FLYING (2000). Der Künstler "spielt" hier mit dem (offensichtlich unerschütterlichen) Bonus der Authentizität des Fernsehbildes: Auf einem Fernsehmonitor sehen wir den Schatten eines Flugzeugs, das sich unentwegt im Tiefflug über einer Sandwüste bewegt. Neben dem Monitor drehte sich auf einem Plattenspieler eine mit Staub aus dem Ausstellungsraum bestreute Schallplatte, über der die Papiersilhouette eines Flugzeuges angebracht war. Was modellhaft im kleinen Maßstab dem Betrachter wie ein absurd-faszinierendes Spielzeug vorkam, erlangte als Fernsehbild den Charakter einer "authentischen" Dokumentation, dem das spielzeugartige Miniaturformat nicht mehr anzusehen war. Steig macht in seiner Gegenüberstellung sichtbar, was wir ansonsten unbefragt (weil letztlich unüberprüfbar) konsumieren.

Wem die Stunde schlägt

Über die Installation GLOCKENSPIEL zu schreiben bedeutet auch, über ihre nur sehr kurze Lebensdauer zu schreiben. Noch während der sich an die Ausstellungseröffnung anschließenden Zusammenkunft in einem Syker Lokal machten sich Unbekannte ans Werk, das ihnen fremdartig erscheinende Objekt zu zerstören und "zu entfernen". Wo offensichtlich eine Meinung nicht zu einer verbalen Meinungsäußerung geführt hat, sondern zum dumpfen Aktionismus mutiert ist, da sollten wohl nicht mehr nur die Kunstinteressierten aufschrecken.

Detlef Stein

(Katalog Glockenspiel, Kunstverein Syke, 2002)

up