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Höhlenbilder
Schon beim Betreten der Ausstellung „Corner Surveillance + 24/7 Photography“ im Bildersaal der Artothek München taucht man in eine akustisch und visuell gedämpfte Situation ein: Das große Fenster zur belebten Straße wurde blickdicht opak-weiß gestrichen, auf dem Betonfußboden dunkelgrauer Teppich verlegt, die Ausleuchtung auf einen Strahler reduziert, um, so scheint es, den Ort für die beiden sparsam arrangierten Werkreihen der Konkurrenz seiner urbanen Umgebung zu entheben, ihn zu verschatten. Bei den beiden Werkreihen handelt es sich um ein wandfüllendes Videotriptychon und, diesem gegenüberhängend, eine kleine dreiteilige Serie gerahmter Schwarzweiß-fotografien des Medienkünstlers Alexander Steig.
Corner Surveillance, 2019Die für den Bildersaal konzipierte 3-Kanal Closed-Circuit-Videoinszenierung „Corner Surveillance“ zeigt die Liveübertragung dreier Überwachungskameras, die Steig in den oberen Raumecken platziert und auf selbige ausgerichtet hat. Passgenau werden die Bilder über drei Videoprojektoren auf die schwarz grundierten Projektionflächen der Saalwand projiziert. Zu sehen sind großformatige, diffuse, blaugraue Farbflächen, die durch ihre unterschiedliche Kontrastierung Räumlichkeit suggerieren, statische „Malerein“, die nur durch die tageszeitliche Lichtveränderung als fortlaufender Echtzeit-Film erkennbar werden. Die museale Präsentation mit der Besucherbank lässt eine längere Entwicklungsdauer und Entfaltung des Sujets vermuten.
Die Fotoserie „24/7 Photography“ hingegen besteht aus drei kleinformatigen Schwarzweißabzügen – ein- bis dreiwöchige Langzeitbelichtungen oder -Beobachtungen von Lochkameras auf Fotopapier mit folgenden Motiven: Straßenzug, Bad, Fernsehgerät. Deren Unschärfe dokumentiert das verwischte, vorbeiziehende, unsichtbare Leben der unterschiedlichen Orte. Die scheinbare oder tatsächliche Ereignislosigkeit seiner live übertragenen Videobilder, so sagt der Künstler, sei ein wesentliches Merkmal seines medialen Untersuchungsansatzes. Bei der statisch anmutenden Videoprojektion wartet man auf das Fortschreiten einer Handlung, die Fotos zeigen Spuren vergangener Bewegung. Interessant hierbei ist der Tausch der Funktionen: Die Fotografie erzählt durch die extreme Langzeitbelichtung eine Geschichte, während das „Bewegtbild“ in seiner Statik verharrend eine Situation dokumentiert. Nur der langsame Lichtwechsel verändert die Projektion unmerklich, bis die Überwachungskameras bei zunehmender Dunkelheit automatisch in den Infrarotmodus übergehen und die „Wandbilder“ dadurch in einer eigenartigen Lumineszenz erstrahlen.
24/7 Photography, 2019Zu sehen gibt es hier also eigentlich wenig, alles Sichtbare ist erwartbar und bekannt. Warum nur glauben Künstler, uns zeigen zu müssen, was wir sowieso täglich sehen? Aber haben nicht schon die Kollegen aus der Vogelherdhöhle auf der östlichen Schwäbischen Alb ca. 5000 Jahre, nachdem die endende Eiszeit den Weg frei gemacht hat, damit Homo sapiens Mitteleuropa besiedeln konnte, Dinge dargestellt, die sie umgaben? Alltagsdarstellungen, Landschaften und Portraits waren dann die Hauptthemen der folgenden Jahrzehntausende, bis nach etwa 35000 Jahren industriell gefertigte Produkte des Gebrauchs unverändert zu Kunst erklärt wurden. Grundsätzlich hat sich seit Beginn des menschlichen Werkens nichts geändert. Bereits von Anfang an waren die dargestellten Motive Platzhalter für übergeordnete Themen. So wurden lange Zeit höhere Mächte beschworen, um Jagd und Ernte zu unterstützen, Herrscher gottgleich dargestellt, um das Volk zu beeindrucken, zu kontrollieren und zu unterdrücken, Portraits geschönt, um die zukünftigen Schwiegereltern zu täuschen usw. Mit zunehmender Individualisierung fingen die Menschen an, ihre Umwelt kritischer zu betrachten und politisch zu kommentieren, um Missstände aufzuzeigen und anzuklagen. Natürlich will uns Alexander Steig nicht allein diffuse Raumecken zeigen oder unscharfe Belichtungen; sie dienen vielmehr als „ästhetische Vehikel“, als Referenzbilder seiner Weltbetrachtung und -erfahrung, sie können als ruhiger Kommentar oder leise Fragestellung zu aktuellen gesellschaftspolitischen Tendenzen gerade im Bereich der sich immer enger ziehenden Kreise medialer Kontrolle oder eben dem Verlust des Privaten gelesen werden. Und natürlich drängen sich sofort imaginäre Bilder von Überwachungskameras in schummrigen, leeren Räumen auf, von kontrollierten Orten, die jederzeit ein verdächtiges Subjekt betreten und dessen abweichende Handlung von der vorgegebenen gesellschaftlichen Norm erfasst werden könnte. Das führt uns weiter zur Frage der vermeintlichen Autonomie über die Privatsphäre und deren zunehmenden Gefährdung als staatlicherseits umfassend „gestalkten“ Bürger.
Bekannte und vertraute Bilder setzten erfahrungsgemäß einen Erinnerungsstrudel aus Gesehenem und Erlebtem in Gang. Es braucht eigentlich nur eine Initialzündung, eine Erhellung oder Licht im Dunkeln (der Höhle), um einen Abgleich vorzunehmen bzw. zuzulassen. Das Angebot der ruhigen Beschauung der Videobilder und Fotografien, ihre unaufgeregte Ereignisarmut steht im Widerspruch zu diesem Strudel, den es zu bändigen gilt, der aber letztlich nicht kontrollierbar ist. So schafft Alexander Steig einen dezidiert ereignisarmen, quasi-kultischen oder spirituellen „Erlebnisraum“, der gerade aufgrund seiner formalen Weltabgewandtheit die Reflexion über die Vorgänge außerhalb der Höhle bewirkt.
Martin Schmidt
(Katalogtext "Corner Surveillance", München, 2019 )