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Geliehene Ansichten

Nicht erst seit der Realisation seiner mehrteiligen medialen Anordnung "Geliehene Ansichten – 5 Einstellungen zur Heinrich Vogeler" 2018 im Barkenhoff, dem heutigen Heinrich-Vogeler-Museum, kennt Alexander Steig die idyllische Künstlerkolonie Worpswede im Teufelsmoor. Bereits 2003 war er Barkenhoff-Stipendiat der Künslerhäuser Worpswede und sieben Jahre später Teilnehmer der Shortlist des ersten Paula Modersohn-Becker Kunstpreises in der Worpsweder Kunsthalle. Seine Faszination an diesem Ort blieb bestehen: 2019 assistierte er dem Filmwissenschaftler Simon Frisch von der Bauhaus Universität Weimar bei dessen Exkursion anlässlich des Seminars „Figuren in der Reformbewegung um 1900: Henry van de Velde, Heinrich Vogeler und Gertrud Grunow“. Wiederholt stand dabei Worpswede im Fokus und gemeinsam mit einer Gruppe Studierender der Medienkultur besuchte er erneut die Künstlerkolonie. Denn das Dorf und insbesondere der Barkenhoff mit Heinrich Vogeler hatten sich nach dem Ersten Weltkrieg als Zentrum einer Reformbewegung herausgebildet. Diese Entwicklung des einstigen Jugendstil-Künstlers weckte bereits zuvor Steigs Interesse an der Person Vogelers.


Worpswede, Teufelsmoor

Das Offenlegen und Sichtbarmachen von Vergessenem ist neben dem Fokus auf Repressionsmechanismen eines der Leitthemen in Steigs künstlerischem Ansatz. Verdeckte Lebensmomente des Malers und Gestalters Heinrich Vogeler, einem der wichtigsten Vertreter der Worpsweder Künstler:innenschaft, wieder an den Tag zu bringen, stand 2018 im Zentrum seiner fünfteiligen Inszenierung im ersten Saal für Wechselausstellungen. Als Künstler des Jugendstils zu Beginn des 20. Jahrhunderts gefeiert, verwirklichte Heinrich Vogeler in Worpswede sein selbstentworfenes Idyll. Der Barkenhoff, sein Wohnhaus und Atelier, stellte den Mittelpunkt dieser Ästhetisierung seines Lebens dar. Die aufgekaufte Bauernkate wurde von Vogeler zum Gesamtkunstwerk des Jugendstils, der Künstlerresidenz Barkenhoff umgeformt. Architektur, Garten und Interieur, alles stammte von seiner Hand. Hier lebte er gemeinsam mit seiner Familie, seiner Gattin Martha sowie den drei Töchtern, hier befand sich um die Jahrhundertwende der Treffpunkt für Künstler:innen und Literaten. Ob Rainer Maria Rilke, Gerhard Hauptmann oder Paula Modersohn-Becker; sie alle trafen sich im Worpsweder Barkenhoff, tanzten und feierten. Doch diese Phase war nur von geringer Dauer. Kurz nach der Jahrhundertwende zerfiel die Worpsweder Künstlerkolonie. Die Protagonisten entwickeln ihre persönlichen Stile und verfolgen unterschiedliche künstlerische (und politische) Ziele. Im familiären Umfeld emanzipiert sich Martha Vogeler, die Gattin und Muse, zunehmend von Heinrich und sucht außerhalb der Ehe ihr privates Glück. Bereits vor 1910 lassen zudem die künstlerischen und damit finanziellen Erfolge von Heinrich Vogeler nach. Der Jugendstil wird durch neue expressive Strömungen abgelöst. Es kommt zum Bruch. Vogeler zieht in den Krieg! Mit fast 42 Jahren entschließt sich der Märchenprinz des Jugendstils 1914 als Kriegsfreiwilliger für sein Land zu kämpfen. 1918 wird Vogeler vom Dienst suspendiert, nachdem er im Januar einen Friedensbrief an den Deutschen Kaiser Wilhelm II. veröffentlicht hatte. Geläutert von den Kriegserlebnissen kehrt Vogeler nach vorübergehender Zwangseinweisung zurück auf seinen Barkenhoff. Nichts ist mehr wie zuvor. Vogeler steht nun unter politischer Beobachtung. Trotzdem gründet er eine Siedlungskommune mit angegliederter Arbeitsschule und engagiert sich politisch in der Räterepublik Bremen.


Barkenhoff und Bahnhof Worpswede

Dieser Umbruch im Leben Vogelers, der wohl vielen Besuchenden des Museums unbekannt ist, weckte Steigs Neugierde. Er begab sich auf Spurensuche, um mehr über diesen Lebensabschnitt zu erfahren. Die ausgestellten Werke des Museums, das Haus und der Garten selbst, auch die Landschaft, ferner Zeitungsartikel, Fotografien und Dokumente aus Archiven wie auch die Autobiografie sowie die Schriften Vogelers gaben Steig einen Einblick in dessen Lebensweise und Denken. In seiner Inszenierung Geliehene Ansichten verwob Steig seine Entdeckungen in verschiedenen Stationen vor Ort.

Wie ein Maler eine feste Farbpalette besitzt, greift Steig für seine Mixed-Media-Inszenierungen auf ein variables Repertoire von Materialien zurück. Tische und Stühle aus dem nüchternen Setting eines Wachraums, Röhrenmonitore, Videokameras, Kabel, Lichtspots, Stative, Projektoren, Archivalien, diese Objekte gehören zu seinem Inventar. Zu seinen Installationen reisen die Materialien entweder vorab per Paket an und/oder befinden sich in seinem Gepäck. Zuvor besucht er vielfach den Ort seines geplanten Vorhabens, um sich mit dessen Historie auseinanderzusetzen, das Sujet zu entwickeln sowie die Gegebenheiten des Ausstellungsraums auszuloten. Den Aufbau seiner Arbeit begleitet der Künstler stets persönlich. Denn erst im Moment des Aufbaus realisiert sich das Werk. Die Umsetzung einer Inszenierung durch externe Assistenz widerspricht somit seiner künstlerischen Intention. Steig nimmt vielmehr sowohl die Funktion des Technikers, Dramaturgen als auch des Regisseurs wahr. Er entwickelt die Idee und setzt seine Inszenierung auf der Bühne, dem vorhandenen Raum, um. Vorab fertigt er für seine ortspezifischen Installationen Entwurfszeichnungen an. Skizzen, die an Bühnenbilder erinnern und eine eigen ästhetische Kategorie darstellen. Der unmittelbare Ortsbezug und das Sehen als Topos sind dabei wiederkehrende Konstanten seines Werkes.

Mit einem Entwurf aus Tusche, Bleistift und Tinte näherte sich Steig aus der Vogelperspektive dem Ausstellungsraum im Barkenhoff. Die fünf Stationen seines Beitrags verteilte er rhythmisiert entlang der Wände. Beim Betreten fällt zuerst an der gegenüberliegenden Stirnwand die großformatige Projektion eines runden Steins, eines Kiesels, ins Auge: Isarkiesel - Die Münchner Räterepublik grüßt den Barkenhoff (Drop-Sculpture vs. Eternal Monument). Die besondere Materialität dieses Steines und damit seine Einzigartigkeit wird den Betrachtenden durch die wandfüllende Projektion veranschaulicht. Jeder Kiesel ist trotz der unendlichen Anzahl ähnlicher Kiesel ein Unikat, mit singulärer Äderung und von der Natur geformt. Jeder einmalig in seiner Gestalt und doch für die meisten Menschen nahezu austauschbar. Eben diese Austauschbarkeit definiert die „Drop-Sculpture“ nach dem Kunsthistoriker Jean-Christophe Ammann. Eine „Drop-Sculpture“ bezeichnet ein bewusst platziertes Werk, das wie vom Himmel gefallen erscheint.1 Diese Skulpturen reagieren nicht mit ihrer Umwelt, sie sind universell austausch- und platzierbar. Eine ebensolche Bedeutung nimmt der Stein ein, der wohl überall auf der Erde aufzufinden ist und auswechselbar wirkt. Der Stein tritt in der Funktion der „Drop-Sculpture“ als eine über Zeit und Raum verbindende, serielle Konstante in Steigs Arbeiten auf. In der monumentalen, meterhohen Präsentation erscheint der Stein wie ein Findling, ein Naturmonument. Doch die Projektion trügt! Abseitig, neben der Großprojektion, findet sich das projizierte Objekt, ein nur handtellergroßer, illuminierter Kiesel. Auf einer rotierenden Plattform liegend, dreht sich der Stein innerhalb von 24 Stunden einmal um seine Achse. Eine Kamera filmt die nicht wahrnehmbare Bewegung im Closed-Circuit-Verfahren.2 Das metergroße, statisch erscheinende Bewegtbild stellt sich als optische Täuschung heraus.


Isarkiesel - Die Münchner Räterepublik grüßt den Barkenhoff (Drop-Sculpture vs. Eternal Monument), Heinrich Vogeler Museum, Barkenhoff, Worpswede

Der kleine Kiesel ist aus „unverwüstlichem“ Material, ein Symbol der Unvergänglichkeit und damit ein „Eternal Monument“. Dem Ewigkeitsmonument des Steines wird die Vergänglichkeit der Zeit durch die ewige Rotation gegenübergestellt, Bestehen und Vergehen. Der Kiesel ist kein beliebiges Fundstück, sondern ein Isarkiesel aus Steigs Wahlheimat München. Dies ist der Gruß der Münchner Räterepublik an den Barkenhoff, von dem der Titel des Werks erzählt: Nach dem Ersten Weltkrieg hatten sich in Deutschland in verschiedenen Städten im Zuge der Arbeiterbewegung Soldaten- und Arbeiterräte gebildet. Auch in Bremen und München gründete sich eine Räterepublik, in der Vogeler Anfang 1919 als Mitglied aktiv war; nach der militärischen Zerschlagung der Räterepublik im selben Jahr floh Vogeler ins Sauerland. Der Kiesel, der in weiteren Arbeitszusammenhängen in Steigs jüngeren Œeuvre auftritt, erhält neben der materialimmanenten Symbolik hier eine zusätzliche Bedeutungsebene: Der steinerne Gruß wird zum Symbol des Steinewerfens. Das Steinewerfen ist bis in die Gegenwart Ausdruck des Kampfes des Proletariats gegen das Establishment. Als „Ewiges Monument“ berichtet der Stein von dem historischen Steinewerfen der Räterepublik, deren Niederschlagung sich 2019 zum hundertsten Mal jährte. Steig verweist somit auf eine besondere Episode im Leben Vogelers und die historischen Ereignisse, die dessen Politisierung beeinflussten.

Die weniger bekannten Aspekte zu Vogelers Biografie zu befragen – wie beispielsweise die tragische Tatsache, dass er am 14. Juni 1942 im Krankenhaus des Kolchos „Budjonny“ (Kasachstan) an Entkräftung verstarb, sein Grab bis heute unbekannt ist – gelingt Steig auch mit einem weiteren Element seiner Installation, dem virtuellen Gedenkraum. Das „Eintrittsticket“ dorthin findet sich als Mitnahmeobjekt in einem Postkartenständer: Auf der schwarzweißen Karte ist das Gesicht des Jugendstilkünstlers als QR-Code formatiert zu sehen. Per Smartphone führt das „Pixel-Portrait“ direkt in eine andere Dimension, zum „Johann Heinrich Vogeler Memorial Room“, einem allzeit erreichbaren Gedenkraum (www.johannheinrichvogeler.de). Der reale Gedenkort Vogelers, der Barkenhoff, wird aus Zeit und Raum enthoben und in die Ortlosigkeit des World Wide Web transportiert. Im Online-Gedenkraum zeigt sich die Bildquelle des QR-Codes, das Antlitz des jungen Vogelers mit Stehkragen, eine gemeinfreie, häufig genutzte Aufnahme von 1897. Unter Vogelers Porträt reihen sich, wie für Memorials typisch, Zuschreibungen an den Verstorbenen. Es sind evidente Zuschreibungen, wie „painter“ und „husband“, aber auch „pacifist, nudist“ und „communist“, die irritieren.3 Doch alle diese Titel tragen Vogelers Wirken und Person in seinen vielen Facetten Rechnung. Das Vergangene und Vergessene im Leben Vogelers wird gleichsam offenkundig wie das immerwährende Streben nach Veränderung.


Johann Heinrich Vogeler Memorial Room (Postkarte/Website) und frühe Skizze

Der kritischen Annäherung an die ehemalige Verehrung des Künstlergenies Vogeler ist auch die zweite Closed-Circuit Videoinszenierung STAR #9 gewidmet. In dieser Arbeit ist die lebensgroße Wandprojektion eines Mannes mit Heugabel in weißer Uniform zu sehen. Die Bildquelle nahe der Projektion, ein Zeitungsausschnitt mit Text, identifiziert den Dargestellten: „Ein Worpsweder als Kriegsfreiwilliger. Der Maler und Radierer Heinrich Vogeler, 1914“. Auch hier wird das Motiv von einer Videokamera direkt via Projektor an die Wand projiziert. Ein leichtes Bildflirren und die Änderung der Lichtsituation beim Betrachten (durch Verdunkelung des Archivdokumentes) lösen die Bildstatik auf, lassen die Figur „atmen“. Wahrscheinlich mit der Absicht, den populären Maler Vogeler als positives Exempel eines Kriegsfreiwilligen zu porträtieren, erschien zu Kriegsbeginn diese Meldung. Als Soldat, mit Mistgabel bewaffnet, zeigt Vogeler wenig Starattitüde, erscheint eher als Karikatur eines Künstler-Stars und wehrhaften Soldaten.

Die Inszenierung des “bewaffneten“ Vogelers ist die neunte Arbeit der Serie „STAR“, in der Steig seit 2003 verstorbene Personen des 20. Jahrhunderts, die mit seinen Ausstellungsvorhaben in Verbindung stehen, portraitiert, wie die „berühmte“ RAF-Geisel, den Nationalsozialisten und späteren Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer (STAR #6) oder den Politiker Franz Josef Strauß (STAR #8) in der Ermekeilkaserne Bonn, aber auch ein wenig bekanntes NSDAP-Mitglied, den Mitarbeiter der Bremischen Heil- und Pflegeanstalt Gerhard Buda (STAR #3) im Krankenhaus-Museum Bremen wie auch einen Wehrmachtssoldaten (STAR #7) im alten Hauptpostamt Augsburg.4 Sie alle werden als Stars verklärt, exponiert, aber durch das Kenntlichmachen der Bildquelle und des Kontextes „entlarvt“. Erneut irritiert Steig: Titel und Bild stehen in Dissonanz. Der Star ist eine medial geschaffene, konstruierte Figur des öffentlichen Interesses, in der gezielt Attribute einer Person hervorgehoben werden. Für die Medien ist der Starkult ein Business, sie entwickeln diesen mit. Es wird meist, je nach Intention, ein eindimensional inszeniertes, vorteilhaftes Bild einer Person geschaffen. Der Zeitungsartikel zu Vogeler präsentiert das Bild eines treuen, folgsamen Bürgers und Patrioten; dessen späterer Wandel war 1914 nichts zu erahnen. Es wird schnell ersichtlich: Auf Basis der Massenmedien lässt sich keine getreue Charakterisierung einer Person gewinnen.


STAR #9, Heinrich Vogeler Museum, Barkenhoff, Worpswede

Wie es sich für einen Star gehört, strahlt nebenan als dritte Closed-Circuit Videoinszenierung ein grauer Kontrollmonitor das VOGELER-TV aus. Auf dem Bildschirm erscheint die schwarzweiße Überwachungsaufnahme eines historisch anmutenden Esszimmers mit Kamin und Wandbild. Heinrich Vogeler, der Star des Programms, ist nicht zu sehen. Die Räumlichkeit des Videos ist den Besuchenden vertraut, haben sie diesen Ort doch zuvor im angrenzenden Museumstrakt durchschritten. Es handelt sich um Diele des Barkenhoffs, bekannt für die sogenannten Barkenhoff-Fresken: Die politische Wandmalereien mit revolutionären Szenen sind auf dem Bildschirm als Abbilder der sichtbaren Welt live zusehen, wie der aktuelle Datums- und Zeitstempel suggeriert. Doch schon wieder trügt die Wahrnehmung, denn der gegenwärtige Dielenraum stimmt nicht mit dem des Monitorbildes überein. Alexander Steig zeigt ein Relikt: Zu sehen ist die Diele mit denjenigen Barkenhoff-Fresken, die Vogeler in Etappen von 1920 bis 1926 fertigte und die nicht mehr in dieser Form existieren. Die 1-Kanal-Videoinszenierung zeigt die Echtzeit-Übertragung eines Fotos aus den 1920-er Jahren, der Zeitstempel authentifiziert die Gegenwärtigkeit des Sichtbaren und simuliert damit Aktualität. Die Videoüberwachung lügt nicht, es ist eine aktuelle Realitätsabbildung. Die Täuschung liegt jedoch in der „gefilmten“ Vorlage: Die Wiedergabe auf dem Monitor ist das Abbild einer Fotografie, somit ein doppeltes Abbild. Eine Fotografie dokumentiert immer einen vergangenen Realitätsausschnitt und kann nicht die aktuelle Gegenwart darstellen.

Die menschliche Wahrnehmung evoziert mit der Live-Übertragung Aktualität und Realität. Dass eine statische Vorlage gefilmt wird, entspricht nicht dem Erfahrungsrepertoire. Bilder, Daten und Zahlen sind als faktische Belege in einer digitalisierten Welt, in der Fake-News und Fotofilter zum Alltag gehören, nicht mehr aussagekräftig. Sie unterliegen der ständigen Manipulation. Gleichzeitig kreiert Steig mit dem Zeitstempel sowie dem Standbild eine Analogie zu Aufnahmen von Überwachungskameras. Die metaphorische Bedeutung geht damit über die Manipulation hinaus, denn nicht nur die Fresken, sondern auch die Aktivitäten der Kommune zu dieser Zeit und das Leben Vogelers standen unter Überwachung. Überwachung und Kontrolle, Manipulation und Illusion begegnen uns beständig in unserer Lebenswirklichkeit. Mit der Manipulationskraft der Medienwelt spielt Steig in allen fünf Einstellungen seiner Inszenierung, sie ist allen Anordnungen immanent. Immer wieder werden unsere Sinnes- und Sehgewohnheiten getäuscht. Dabei werden die Strukturen der Manipulation und Täuschung aufgezeigt und zugleich offengelegt, indem abgebildetes Objekt, Kamera und Projektion sich im selben Raum befinden. An der letzten Station des Raumes, Inseln (Echo), schallen den Besuchenden Stimmen aus der Vergangenheit entgegen, ein semi-fiktiver Dialog der Worpsweder Maler mit ihrem Freund Hermann Allmers. Eine Fotografie, die sogenannte „Gänseblümchenparade“ aus dem Jahre 1894, hält die Worpsweder Künstler Otto Modersohn, Fritz Overbeck, Fritz Mackensen, Heinrich Vogeler und Carl Vinnen, gemeinsam mit dem Schriftsteller Allmers bei einem ihrem Treffen fest. Den Auftakt dieses fiktiven Dialogs gibt der Dichter mit seiner Rezitation „Im Colosseum“. Fritz Mackensen, der Maler des „Gottesdienst im Freien“, antwortet auf das Italien-Gedicht mit dem Ausspruch, „Italien… In Blut und Boden liegt der Nährwert wirklicher Kunst.“ Diese historisch gesicherte Aussage reicht, um Mackensens Ideologie zu erfassen und ihn als nationalistischen Sympathisanten zu identifizieren. Auf einen einzigen Satz reduziert, karikiert Steig die Künstlerpersönlichkeiten. Von der anfänglichen Einigkeit und der Gemeinschaft der Worpsweder Künstlerriege ist im Dialog wenig zu spüren. Steig greift in seiner akustischen Installation die Entwicklungen der Kolonie auf: Die Künstler:innenkolonie zerfällt. Jeder Künstler steht für seine eigene Persönlichkeit und seinen eigenen Stil, ist eine eigene Insel. Einigkeit und Idylle herrschten nicht mehr vor.


Vogeler-TV, Heinrich Vogeler Museum, Barkenhoff, Worpswede

Mit Irritation und Täuschung gelingt es Alexander Steig in seinen Inszenierungen die Wirklichkeit zu hinterfragen. Durch das Sichtbarmachen der abgebildeten Objekte offenbart er die Macht der Simulation. Der Akt des Sehens wird somit bei Steig zum intelligibelen Erfahrungsraum, zum Akt des Erkennens, der über die rein visuelle Ebene der Wahrnehmung von Wirklichkeit hinausgeht. Das Hinterfragen der Realität geschieht zugleich unabhängig vom Sujet durch Steigs Auswahl des Mediums. René Magritte bediente sich als Mittel der Malerei, um das Konzept der Malerei als unmittelbares Abbild der Wirklichkeit zu untersuchen, bei Steig ist es das Medium des Live-Videos als unmittelbares Abbild der sichtbaren Welt. Ein weiterer zentraler Punkt in Steigs Werk ist die konstante Wiederholung auf allen Ebenen seines künstlerischen Schaffens. Analoge Themenwahl, analoge Titel, übereinstimmende Materialien – das Serielle als Thema im Werk stehen im Gegensatz zur ephemeren Präsentation vor Ort und der Flüchtigkeit des Mediums, der Live-Wiedergabe einer Aufnahme im Closed-Circuit-Verfahren. Die Installationen sind für eine kurze Zeitspanne an einem Ort beständig. Am nächsten Ort erfolgt eine Auseinandersetzung mit der neuen Örtlichkeit und Öffentlichkeit, dann mit neuen Visualisierungen.

Nur durch Dokumentationen wie dieser Publikation sind die flüchtigen Installationen und ihre Wirkung nachträglich rezipierbar. Mit dem virtuellen Gedenkraum wird dieser Kreislauf des Vergessens durchbrochen. Das Internet vergisst nicht. Der Person Vogelers an ihrem Gedenkort, dem Barkenhoff, mit einem virtuellen Gedenkraum zu gedenken, zeigt zudem Steigs subtilen Humor. In seiner Installation setzt er der unerwartet vielschichtigen Persönlichkeit Vogelers ein Denkmal. Dazu bedient sich Steig jeweils geliehenen Ansichten, Zitaten zur Person Vogelers, die diesen nicht nur als romantisch-verträumten Jugendstil-Künstler porträtieren, sondern ebenso als Unterstützer des Ersten Weltkrieges oder Kommunisten. In seiner Inszenierung zielt Steig darauf ab, diese Erinnerungen erfahrbar zu machen und zugleich den Blick der Betrachtenden für die eigene Wahrnehmung zu schärfen. Vergangene Installationen werden mit den gegenwärtigen sowie künftigen Inszenierungen seriell verbunden und Interdependenzen über Zeit und Raum geschaffen. In letzter Konsequenz werden Zeit und Raum dadurch aufgelöst und der universelle Anspruch seiner Werke, die einerseits ortsgebunden, aber thematisch nicht auf diesen Ort beschränkt sind, erkenntlich. In diesem Sinne haben seine Inszenierungen nichts an Aktualität verloren. Es sind Konstanten der Menschheitsgeschichte, wie die zentrale Frage der Komplexität der Wirklichkeit sowie deren Manipulation, der sich Steig immer wieder zuwendet. Die Frage, was wirklich ist, wird Steig dem Publikum zwar nicht beantworten. Doch durch sein Spiel zwischen Täuschung und Irritation ermächtigt Steig zugleich den Betrachtenden selbst nach Antworten zu suchen.

Mirjam Kreber

1 Jean-Christophe Ammann: A Plea For New Art in Public Spaces, 1984, Parkett Vol. 2, S. 6.
2 Das Closed-Circuit-Verfahren ist eine Videotechnik, die seit den späten 1960-er Jahren von Künstler:innen eingesetzt wird. Es bezeichnet die unmittelbare Signalübertragung mit Rückkopplung zwischen Aufnahme- und Wiedergabegerät. Formal gesehen handelt es sich dabei in Steigs Œuvre mehrheitlich um scheinbare oder tatsächliche Closed-Circuit-Videoinstallationen, deren medienspezifische Signifikanz innerhalb skulptural-räumlicher Elemente die Live-Übertragung im Installationszusammenhang darstellt. Vgl. Slavko Kacunco: Closed Circuit Videoinstallationen: Zur Geschichte und Theorie der Medienkunst, Berlin 2005.
3 Steig wüdigt Vogeler dort als „bourgeois intellectual, painter, illustrator, architect, desginer, poet, husband, soldier, philosopher, writer, pacifist, prisoner, pedagogue, economist, feminist, nudist, anti-fascist, christian, set-designer and communist“,http://johannheinrichvogeler.de, augerufen am 27.03.2023.
4 Vgl. Alexander Steig: APPELL, München 2020, S. 22.

(Katalog: Alexander Steig: Geliehene Ansichten - 5 Einstellungen zu Johann Heinrich Vogeler)

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