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Die dekonstruktivistische Poesie und Poetik in Alexander Steigs Ansichten und Einstellungen zu Heinrich Vogeler

„Geschichte zerfällt in Bilder, nicht in Geschichten“ Walter Benjamin

I.
Die Nominierung für den Paula-Modersohn-Becker-Kunstpreis bot Alexander Steig im Jahre 2018 die Möglichkeit, sich in situ seinem Kollegen Heinrich Vogeler anzunähern und mit ihm in ein ‚Gespräch‘ zu kommen, das ebenso spannende wie kontroverse Einsichten befördern kann, wenn man sich darauf einlässt, daran teilzunehmen. In der Ausstellung mit dem Titel „Geliehene Ansichten – 5 Einstellungen zu Johann Heinrich Vogeler“ bildet schon die gewisse Kargheit in der Gestaltungsform einen auffallenden Kontrast zu Vogelers umfassender Gestaltungslust, die in der Dauerausstellung nebenan im vormaligen Wohnhaus des Jugendstilkünstlers dokumentiert wird. Alles im Barkenhoff, einer einstigen Bauernkate, wurde ab 1894 von Heinrich Vogeler selbst als Gesamtkunstwerk gestaltet: Gebäude und Garten, Gläser, Geschirr, Besteck, die Möbel, die Türen, die Türgriffe, die Tapeten, auch die Kleider seiner Frau usw.[1] Die Welt war dem Jugendstilkünstler eine zu gestaltende. Sie musste schön werden, damit auch der Mensch schön werden kann!

Alexander Steig sucht in seiner Arbeit keinen mimetischen Zugang zu Heinrich Vogeler. Der Ausstellungsraum wurde mit nur wenigen schmucklosen Funktionsmöbeln sowie Audio- und Videotechnik besetzt. Der ersten Anmutung nach scheint er einen dokumentarischen Ansatz gewählt zu haben: ein Arbeitsraum, wie es ihn in Archiven oder Laboren gibt; man könnte Dokumente und Archivalien zu Heinrich Vogeler erwarten. Aber in jeder der fünf Positionen bzw. Einstellungen, aus der die Gesamtinstallation bestand, gab es jeweils nur ein Element: eine Postkarte, eine Fotografie, einen Zeitungsausschnitt, einen Text oder einen Stein. Diese Objekte wurden nicht als Dokumente im klassischen Sinn als Spuren, Belege oder Zeugnisse eingesetzt, aus denen man etwas über etwas anderes erfährt. Vielmehr waren sie zu Einstellungen – wie es im Titel der Ausstellung heißt – eingerichtet.

In einem Nachruf auf den Regisseur Fritz Lang schreibt Wim Wenders 1976 über seine Erfahrungen mit dessen Filmen: „Deutlicher als jemals in anderen Filmen wurde mir der Begriff der Einstellung. Jemand hatte eine Einstellung zu den Dingen, jemand hatte sich auf etwas eingestellt, etwas stellte sich ein, etwas wurde eingestellt. Die Dinge und die Zeit.“[2] Wenders erfasst hier präzise Langs Interesse für die Dinge und die Sachen, mit dem dieser nach expressionistischen Anfängen seit der zweiten Hälfte der 1920er Jahre den Film aus dem Expressionismus in die Neue Sachlichkeit überführte. Langs Filme interessieren sich immer besonders dafür, wie die Dinge, und nicht so sehr die Menschen, zu Akteuren und Handlungstreibern werden. Wim Wenders nun, der damals gerade den Geist der europäischen Neuen Wellen lieben gelernt hatte, mag Fritz Langs „Einstellungen“ nicht: „Es sträubte sich alles in mir gegen diese kühlen und scharfen Bilder, diese sichtbar gewordenen Gedanken“ [3] schreibt er. Alexander Steigs Einstellungen zu Vogeler aber sind gerade keine „kühlen und scharfen Bilder“ und auch keine „sichtbar gewordenen Gedanken“. Seine Einstellungen werden in raffinierten Medieninstallationen zu Fragen. Daraus gewinnen sie, auch wenn die Arbeit sehr konzeptionell angelegt ist, eine Multiperspektivität, eine Performativität und Reversibilität und eine eigentümliche Poesie – wenn schon, dann eher Murnau als Lang.

II.
In seine Arbeitsweise führt Steig in der Ausstellung im Barkenhoff ein mit einer Closed-Circuit-Videoinszenierung[4], die gleich beim Betreten des Ausstellungsraums auffällt: eine nahezu wandfüllende Projektion eines mächtig großen, runden Steins, der stark kontrastiert vor dunklem Hintergrund auf hellem Untergrund ruht. Die Arbeit trägt den Titel „Isarkiesel - Die Münchner Räterepublik grüßt den Barkenhoff (Drop-Sculpture vs. Eternal Monument)“. Dass der große Stein „Kiesel“ genannt wird, irritiert, fast wie ein ironischer Witz. Doch in einer Nische links neben der Projektion, offenbart sich die Konstruktion: hier ruht wirklich ein handgroßer Kiesel auf einer runden Pappscheibe, den – wenn der Titel der Arbeit stimmt – der Künstler Steig aus München mit nach Worpswede gebracht hat. Der sich unmerklich drehende Kiesel (in 24 Stunden einmal um die eigene Achse) wird von einer Kamera aufgenommen und direkt live via Beamer an die Wand projiziert – es ist also ein Bewegtbild, das wir sehen, ein Film!


Isarkiesel - Die Münchner Räterepublik grüßt den Barkenhoff (Drop-Sculpture vs. Eternal Monument), Heinrich Vogeler Museum, Barkenhoff, Worpswede

Hatte der Anblick des großen Steins an der Wand gerade noch gedanklich eingeladen, sich darauf zu setzen, könnte man ihn jetzt in die Hand nehmen, wie er da liegt vor dem Kameraobjektiv, so ohne Glasschutz einer Vitrine. Ein bisschen ertappt sieht er aus, wie der Zauberer in The Wizard of Oz in seiner Kabine: „Pay no attention to that man behind the curtain!“. Ein Spiel mit Bildern und Dimensionen, eine Reflexion von Ansichten und Einstellungen entfaltet diese Arbeit. Der Stein, der an der Wand im Bild wie ein Felsen oder Findling wirkt, ist als Objekt vor der Kamera ein Kiesel. Wie verdichtete Masse mutet der kleine Stein gegenüber seinem großen Bild an. Schwer sieht er aus, weil die Empfindung aus der Projektion in ihm noch wirkt. Und umgekehrt fühle ich mich zum Riesen gewachsen. Das irritierende, intelligente Vexier- und Verwandlungsspiel dieser Installation hat eine lange Tradition: es erinnert an die Anfangsszene in Carrolls Alice in Wonderland, in der Alice aus zwei Fläschchen trinkt und wechselweise wächst und schrumpft. Und mit ihrem Wachsen und Schrumpfen verwandeln sich jeweils die Dimensionen ihrer Umwelt, sie selbst und das Feld ihrer Möglichkeiten. Die kleine Alice kann durch das Mauseloch schlüpfen, aber sie erreicht den Schlüssel auf dem Tisch nicht; die große Alice gelangt an den Schlüssel, passt aber nicht durch die Tür. Wer den Klassiker von Lewis Carrol nicht mehr kennt, mag an die raffinierten Spiele mit den Größenverhältnissen in den Ant-Man-Filmen denken, anderen fallen vielleicht die Arbeiten des Pop-Art-Künstlers Claes Oldenburg ein… – allen diesen witzig-vergnüglichen und unterhaltsamen Spielen mit den Größenverhältnissen ist gemeinsam, dass sie immer auch beunruhigend und unheimlich sind, im klassischen freudschen Sinne des Unheimlichen. Nach Freud ist das Kennzeichen des Unheimlichen, wenn alltägliche Dinge aus ihren heimelig-heimischen Dimensionen gekippt werden und ihre Verlässlichkeit und Gewohnheit wird ins Fremde verzerrt, so dass altbekannte Dinge sich zeigen, wie wir sie noch nie gesehen haben. Das Gewöhnliche wird fremd, die Welt ist aus den Fugen, die Dissonanzerfahrung lässt uns wanken, Wahn droht, wir bekommen Angst. Ein Kiesel in Dimensionen eines Felsens, ein Hocker hoch wie ein Haus (bei Alice), ein Haus wird zum Koffer, ein Auto zum Spielzeug (Ant-Man), eine Zahnpastatube steht groß wie ein Monument in einem Park (Oldenburg) usw. Das Spiel mit dem Verlust von Orientierung verunsichert unsere Weltbeziehungen und unsere Orientierungssinne. Hier hat jemand gerade nicht eine Einstellung zu den Dingen, hier hat sich jemand nicht auf etwas eingestellt, und hier wird nicht etwas eingestellt. Sondern hier werden mit den Mitteln der Einstellung Fragen gestellt: Wie groß bin ich, wie groß ist ein Mensch eigentlich? Wie groß sind die Dinge? Wie groß ist die Welt? Was ist überhaupt groß und was ist klein?

Mit solchen Fragen und Reflexionen führt der doppelte Isarkiesel ein in die einzelnen Arbeiten der Installation: Ein Zwischenraum entsteht, im Stein selbst. Steig hat nach dieser Ausstellung wiederholt Kiesel inszeniert: Im Jahr 2020 beispielsweise beschäftigte er sich in Münchens WELTRAUM nochmal in mehreren Positionen mit dem „Isarkiesel“, 2021 kam in Hannovers feinkunst e.V. ein „Leinekiesel“ hinzu und im Januar 2024 wird er sich im isländischen Akureyri Art Museum einem Kiesel des Eyjafjörður widmen. Im Barkenhoff bildete der Kiesel den Einstieg in Steigs „Gespräch“ mit Vogeler. Die Einstellung, die Wenders noch als statisch beschrieben hatte, wird vervielfältigt, sie wird bei Steig prozessual. Steig dekonstruiert die Einstellungen durch die Einrichtung medialer Zirkel in seinen Closed-Circuit-Videoinstallationen. Die Einstellung gerät in Bewegung, wird zum Vorgang. Steig reflektiert darauf, wie unser Wissen und unsere Orientierung sich in Prozessen bilden und immer wieder neu fügen. Und: All unser Wissen über unsere Weltbeziehungen – und also auch über uns – beziehen wir aus „geliehenen Ansichten“, die wir aus medialen Kontexten gewinnen. Steig dekonstruiert unser Wissen und öffnet es – hin zum Raum des Nichtwissens.

III.
Die Dekonstruktion ist ein Gegenkonzept zur Rekonstruktion. Der Dekonstruktivismus zielt darauf, blinde Flecken und Ausschließungen im Bereich des Selbstverständlichen und in kulturellen Gepflogenheiten sichtbar zu machen, und vor allem Widersprüche zu inkludieren. Dekonstruktivismus sorgt sich um die Komplexität, Vielschichtigkeit und vor allem um die Widersprüchlichkeit in der Darstellung von Weltbeziehungen und in ästhetischen Vorgängen. Statt Deutung, Übersetzung, Beurteilung, Einordnung, Vereinfachung oder Schließung geht es um Öffnung, um die Anregung von Prozessen, um Vervielfältigung von Perspektiven. Es geht um eine Erhöhung von Komplexität, um der Komplexität der Weltbeziehungen und Verhältnisse gerecht zu werden. Es geht auch um Gerechtigkeit. Der philosophische und ästhetische Dekonstruktivismus ist insofern also politisch, weil er Operationen von Reduktion und Ausschluss, die kulturellen Gepflogenheiten inhärent sind, entgegenarbeitet. Dem, was eine Kultur für normal hält, wird die Abweichung von der ‚Normalität‘ hinzugefügt, der Ausschluss wird mitgedacht, benannt und integriert ins Bild und in Beschreibungen und Analysen. Dekonstruktivistische Texte und Arbeiten wirken oft unzugänglich, unfertig, widersprüchlich und vorläufig, denn die Heterogenität tritt anstelle von Einheitlichkeit und Einfachheit. Der Dekonstruktivismus entsteht wohl nicht zufällig seit der Mitte des 20. Jahrhunderts im Kontext des Niedergangs europäischer Kolonien, aus dem heraus sich – bis heute – viele abendländisch-europäische Gewissheiten auflösen. In der Bildenden Kunst und Literatur, auch in der Architektur sucht der Dekonstruktivismus nach Gegenläufigkeiten, die sich im Werk, im Gefüge der Arbeiten selbst immer wieder gegen das Werk selbst bzw. seine Kohärenz wenden. Eine Arbeit an und mit den Widersprüchen, eine Arbeit mit Brüchen, Fragen und Offenheit wird in Gang gesetzt. Alles bleibt vorläufig, brüchig, Fragment, im Widerspruch… doch sind diese Vokabeln genaugenommen unpräzise, da sie als Gegenbegriffe aus dem Paradigma der Vollendung und Ganzheit herrühren. Dekonstruktivismus zielt auf radikale Integration, umfassendere, weitere Horizonte als solche der Geschlossenheit, Ganzheit und Einheitlichkeit. Dekonstruktivismus sieht die Unvollkommenheit und das Fragment im vermeintlich Ganzen, Einheitlichen und Vollendeten, weil er über diese hinaus gehen will in die Bereiche, die zugunsten der Übersicht ausgeschlossen und ausgeblendet werden. Dekonstruktivismus drängt ins Vielfältige, Diverse, Widersprüchliche. Daher wird die Frage nach der Entstehung von Sinn(en) und Welt(en) und die Vorgänge der Entstehung und Produktion von Sinn in den Kulturtechniken selbst nachvollzogen und aufgezeigt – daher die große Sorge um die gestaltenden Kräfte in den Prozessen der Artikulationsformen (z. B. der Schrift) selbst. Dekonstruktivistische Kunst und Philosophie lädt zur Teilnahme ein, zur Bewegung und eher nicht zum Vortrag und nicht zu bildungsbeflissener Betrachtung – nicht zur Einstellung, wie Wim Wenders sie für die Filme von Fritz Lang beschreibt. Daher nun sind Alexander Steigs Objekte keine Dokumente in klassischer Verwendung als Spuren, Belege oder Zeugnisse von Stationen aus Vogelers Leben.

Steig richtet gegenüber dem Heinrich-Vogeler-Museum eine Beunruhigung ein, eine Beunruhigung über die kulturellen Gepflogenheiten des Künstlermuseums und der bildungsbürgerlichen Praxis, Kunst und Künstler in Konversationswissen zu verwandeln. Vom Archiv-Arbeitsraum, von der Dokumentarkunst-Installation leiht Steig nur die Form für seine Präsentation, um darin seine eigene dekonstruktive Poetik der Reflexion zu entfalten. In jeder seiner medialen Anordnungen, wie er sie auch nennt, verwandelte Steig klassische Quellen – Fotos, Zeitungsausschnitte, Postkarten – in Quellen für mediale Prozesse, die eine Reflexion der Operationen und Vorgänge im Bereich kulturhistorischer Museen eröffnen. Jede seiner Einstellungen fragt: was schauen wir eigentlich an, wenn wir das Leben eines Künstlers besichtigen, was sind das eigentlich für merkwürdige Dinge, die Dokumente aus den Nachlässen der Künstlerinnen und Künstler? Was sehen wir eigentlich, und welche Schlussfolgerungen ziehen wir daraus? Wer sind wir in Bezug auf diese Dinge und diese Menschen, durch deren Lebensspuren wir spazieren. Und was wollen wir darin? In Steigs Ausstellung werden die Methoden und Formate der kulturhistorischen und musealen Forschung selbst Teil der Arbeiten. In jeder der fünf Positionen der Ausstellung wird die Frage spürbar, wie die Annäherung an einen verstorbenen Künstler gelingen kann, ohne vereinfachend und grob deutend oder übergriffig und vereinnahmend zu werden. Der Dekonstruktivismus, das wird hier in einem niedersächsischen Provinzmuseum spürbar, hat seine postkoloniale Inspiration nie verloren, er ist aber, so wird weiter spürbar, nicht auf einen historischen Kolonialismus und auch nicht auf bestimmte Länder und Kulturen festgelegt, sondern er ist für alle Formen der Besetzung und Kolonisierung relevant. Kolonialismus ist eine Haltung zur Welt.

IV.
Beim Gang durch Museen, die in ehemaligen Wohnhäusern von verstorbenen Künstlerinnen oder Künstlern eingerichtet sind, durchfährt mich manchmal jäh der Gedanke, wie wäre es, wenn ich plötzlich bemerkte, dass der Gastgeber noch am Leben ist und nebenan im Salon für uns Kaffee und Gebäck aufträgt, während ich durch seine Küche, sein Schlafzimmer und seine Privatbibliothek stapfe und in seinen Briefen und Tagebüchern lese. Diese Vorstellung irritiert und beschämt – und sie ist zugleich sehr lohnend. Denn sie ruft eine ganze Reihe von Fragen auf, die uns auf Spuren blinder Flecken und verborgener Selbstverständnisse in unserer kulturellen Gepflogenheit in Kunst- und Kulturgeschichte führen. Während wir in Küchen, Schlafzimmer und die Privatbibliotheken eintreten und in Briefen und Tagebüchern blättern, vergessen wir oft, uns die Frage zu stellen, welche Rechte wir Gegenwärtigen an der Vergangenheit, welche Rechte die Nachwelt an den Toten hat. Ganz gleich, ob berühmte und öffentliche oder unbedeutende oder vergessene Persönlichkeiten, die Toten sind – in der abendländischen Kultur zumindest, die nicht so sehr an die Macht der Ahnen glaubt, wie es andere Kulturen praktizieren – wehrlos. Warum gehen wir so selbstverständlich davon aus, dass wir uns ein Bild von ihnen machen und noch dazu dieses ausstellen dürfen? Aber wer wären derjenige oder diejenigen, die uns die Regeln geben könnten? Es gibt sie nicht, bzw. wir sind es selbst. Wir müssen das Gespräch darüber, Dialoge und Unterhandlungen führen, und darin unsere Gewissheiten aufgeben.

Durch ihre feine dekonstruktive Poetik regt die Arbeit von Alexander Steig dazu an, nachzudenken, was es bedeutet, sich mit einer historischen (Künstler-)Persönlichkeit zu beschäftigen. Wie weit darf und wie weit muss ich gehen, und wohin? Was dürfen wir aussagen, deuten und urteilen, und wann? Was müssen, was dürfen wir offenlassen? Und was wird zum Dokument? Und wie wird ein Ding ein Dokument, das uns erzählt von Umständen und Beziehungen, von Milieus? Und was erzählen die Dinge, wenn sie Dokumente werden? Was für ein Wissen gewinnen wir aus den Gegenständen, die uns zu Dokumenten werden? Was wollen wir denn eigentlich von ihnen wissen? Wissen wir denn überhaupt, was wir wissen wollen, wenn wir fremde Briefe lesen und aus nachgelassenen Dingen Lebenswege rekonstruieren und Ansichten, Meinungen bilden?

Es lohnt also wirklich, sich beim Besuch eines Dichter- oder Künstlerhauses vorzustellen, der Hausherr bereite gerade im Salon für uns einen Imbiss zu, während wir in seinen Privatsachen kramen. Diese Vorstellungen bringt Vieles in unseren Gepflogenheiten durcheinander. Unsere Museumsbesuchseinstellung wird durchkreuzt durch eine andere. Es werden viele. Wir stellen uns in Museen eigentlich nicht die Frage, wer unseren Rundgang in Gang setzt, wer unsere Neugier nährt, wer unser Schamgefühl betäubt – oder ob gar ein heimlicher Voyeurismus uns treibt zu einer Praxis, die wir Bildung nennen. Was für eine Bildung ist das? Bildung von was? Wen und was bilden wir beim Flanieren durch fremde Privaträume, die uns nach (und durch) den Tod von Personen zugänglich werden (wir kennen vielleicht auch eine solche Erfahrung beim Tod einer verwandten Person, wenn sich deren intimsten Räume, Schatullen und Schubladen unserem Zugang öffnen)?

Durch die Verwandlung eines privaten Lebensraums in ein Museum verwirren sich die Beziehungen und die Ordnungen der Dinge. Die Adressatenkreise und Kontexte verlieren ihre Bindungen, wenn Fremde Briefe öffnen, in Tagebüchern stöbern oder intime Objekte aus Schatullen und Kisten holen und sie ins Licht von Vitrinen stellen oder in Büchern herausgeben und sie den Augen einer Öffentlichkeit darbieten – für die sie eigentlich nicht bestimmt waren. Die Kraftlinien der Dinge verwirren sich, und auch ihr Sinn. Er muss von der Ausstellung neu geordnet werden, vor allem müssen wir vergessen, dass es eine Ausstellung ist. Wie in der bürgerlichen Theaterästhetik wird eine unsichtbare vierte Wand geschaffen, und wie im bürgerlichen Theater wird gerade so laut gesprochen, dass wir es hören, ohne jedoch zu merken, dass nur für uns gesprochen wird. Auch das Museum und die Bildungsausstellung sind bürgerliche Kunstformen. Und so müssen im Museum die Dinge so gezeigt werden, dass wir nicht merken, dass sie uns gezeigt werden. Denn wir wollen das Gefühl der Teilhabe, und so vergessen wir unsere Anwesenheit, unsere Gegenwart in der Kontemplation. Eigentlich müssten wir daran zweifeln, dass uns Zugang zu Dingen möglich ist, die nicht an uns adressiert sind. Die Ästhetik der bürgerlichen Kultur baut im Grunde in allen Kunstgattungen eine Illusion der unmittelbaren Zugänglichkeit durch das Vergessenmachen der medialen Situation, durch das Durchsichtigmachen der Medien. Ist das eben nicht doch auch eine Lust an Indiskretion, dieses Durchsichtigmachen? Und an der Anekdote, und auch am Klatsch und Tratsch, die uns in die Museen und Hinterlassenschaften von berühmten Persönlichkeiten treibt? – was ja nicht schlimm wäre, hier wehrt sich nur das Selbstmissverständnis, das sich erhalten will. Beschrieben wird solche Kulturpraxis auch oft als eine Art Spiegel, in dem wir uns reflektieren, eine Selbstkommunikation, in der wir ein durch den Künstler oder die Künstlerin gebrochenes Bild von uns selbst zurückzuwerfen. Goethes Faust verhöhnt den Historiker Wagner: „Was ihr den Geist der Zeiten heißt, / Das ist im Grund der Herren eigner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln.“[5]

Während der Historiker im Faust noch widerspricht, ist in der modernen Geschichtsphilosophie die Idee von der Reflexion der Gegenwart in der Geschichtsschreibung inzwischen breiter Konsens. Immer ist daher auch Anverwandlung und Aneignung im Spiel – die sinnvoll sind! Und in Worpswede wird auch Werbung gemacht mit dem Argument, dass die Beschäftigung mit Vogeler für uns heute interessant sei, weil seine Themen von hoher Aktualität seien. Zugleich ist solche Besiedlung vergangener Zeiten, die ja im Grunde fremde Kulturen sind, mit Texten, Ansichten und Urteilen eine graduelle Spielart des Kolonialismus. Die Gegenwart nimmt Einstellungen vor. Auch im Bereich von Heimatstuben, Dichter- und Künstlermuseen usw. finden Aneignung, Vergegenständlichung und Anmaßung statt. Wir stellen uns im Allgemeinen solche Fragen nicht, wenn wir uns z. B. in Museen mit Künstler*innen und deren Leben beschäftigen. Die Art, wie wir das tun, erscheint uns allzu selbstverständlich. Doch gerade die Selbstverständlichkeit kultureller Gepflogenheiten entsteht aus dem Fehlen von Begründungen und aus dem Vergessen von inhärenten Interessen. Kulturelle Praktiken und Gepflogenheiten entstehen immer aus einem Geflecht von Interessen, Ansichten und Einstellungen. Wir machen uns nur selten die Mühe, die Fragen nach unseren Interessen zu stellen. Und selten können wir Auskunft geben darüber, was eigentlich genau uns interessiert an einer Sache, die uns interessiert. Dabei reicht diese Frage doch an den Anfang jeder Beschäftigung, wenn nicht gar an den Grund unseres Daseins: Was ist das, was mich interessiert, wenn mich etwas interessiert?

V.
Es kann sein, dass wir verkennend erkennen, dass wir übersehend sehen, wenn wir übersehen, was uns interessiert, an dem, was uns interessiert. Wenn wir ausblenden, dass wir es in unserer Gegenwart sind, die schauen, urteilen, die sich erzählen und sich erzählen lassen. Ausstellungen, Museen und die Kunstgeschichte haben eine eigene Poetik, und auch eine eigene Poesie. Sie haben eigene „Schreibweisen“ und Inszenierungsformen. Wir genießen in Ausstellungen und Museen die „Dichtungskunst“ bzw. Inszenierung und die Ästhetik der Gattung „Ausstellung“ und „Museum“. Das macht ihr Vergnügen aus! Jedoch können Irrtümer entstehen, die Folgen haben. Kleine Schritte bilden Pfade, aus Pfaden werden Routen und die bilden Routinen, auch das Denken bewegt sich auf Bahnen. Alexander Steig öffnet in seinen medialen Anordnungen einen Ort, aus dem die Bewegung entsteht, aus dem solch kleine Schritte, das Deuten, die Erzählung entstehen. Seine Aufbauten sind reduziert, konzentriert und verwandeln mit einfachen Mitteln die Beziehungen von Raum und Zeit und somit die Medialität der Dinge. Die Arbeit „Vogeler-TV“ beispielweise überträgt auf einem Kontrollmonitor als Videobild mit aktuellem Datums- und Zeitstempel die bekannte historische Fotografie von 1926 von Vogelers politischen Wandbild im Speisesaal des Haupthauses, dem Besucher*innen bei ihrem Rundgang durch Museum begegnen. Auf dem Monitor wird der Blick in seiner Zeitlichkeit verwandelt: der Monitor zeigt nicht mehr eine Fotografie, die immer ein Bild aus der Vergangenheit zeigt – „das lebendige Bild von etwas Totem“[6] – sondern die Übertragung des Blicks in einen Raum, der in derselben Zeit stattzufinden scheint. Dieser Blick kommt durch mehrere Faktoren zustande: zum einen wird die Zweidimensionalität des Fotos auf dem Monitor übernommen, doch da wir gewohnt sind Bilder von Räumen auf Monitoren zu sehen, verwandelt sich die Fotografie durch das Closed-Circuit-Verfahren in die Übertragung eines Blicks in einen Raum. Zweitens ist der Raum auf dem Bild leer, nur Möbel und Dinge sind darin, und daher ist es plausibel, dass sich nichts bewegt. So verwandelt sich auf dem Bildschirm das Foto in ein filmisches Bild, dass hier den überwachenden Kamerablick auf Vogelers umstrittenes und behördlich zensiertes Fries vor seiner teilweisen Zerstörung simuliert.


Vogeler-TV, Heinrich Vogeler Museum, Barkenhoff, Worpswede

VI.
Die Position „STAR #9“ präsentiert an der Wand die lebensgroße Projektion eines Mannes mit Heugabel in weißer Uniform. Die Bildquelle der Projektion ist ein aus dem Archiv des Hauses entliehener Zeitungsauschnitt mit Text: „Ein Worpsweder als Kriegsfreiwilliger. Der Maler und Radierer Heinrich Vogeler, 1914“. 1914 war Vogeler mit 42 Jahren ein verhältnismäßig alter „Kriegsfreiwilliger“. Aufgrund der Kriegserfahrungen, so beschreiben es die Biografen, änderte sich sein Leben: Vom erfolgreichen Jungkünstler und Angehöriger einer Art Jeunesse dorée wurde er zum Kommunarden und Kommunisten, der in den 1920er Jahren die Sowjetunion bereiste und 1931, fast 60-jährig, dorthin auswanderte. 1942 starb er in einem Arbeitslager nahe Kornejewka (Kasachstan) und wurde an unbekanntem Ort bestattet – weshalb Alexander Steig uns einen virtuellen, ortlosen Gedenkraum anbietet: Am Eingang des Raumes konnten sich die Besucher*innen eine Postkarte aus einem Ständer ziehen, deren QR-Code-Portrait des jungen Vogelers zu dieser Memorial-Domain führt (www.johannheinrichvogeler.de).


STAR #9, Heinrich Vogeler Museum, Barkenhoff, Worpswede

Vogelers rätselhafter, brüchiger und widersprüchlicher Lebensweg ist im 20. Jahrhundert im Osten und im Westen sehr unterschiedlich erzählt und bewertet worden. In einem Alter, in dem der Kommunismus keine jugendliche Schwärmerei mehr ist – mit Ende 40 –, gründet Vogeler eine Kommune im Barkenhoff, die etwa von 1919-23 existiert (je nach Zählung). Sein Leben von da ab erscheint als Kontrastbild seiner ersten Lebenshälfte. In seinen überlieferten Texten wird die UdSSR und auch seine Begeisterung für den Kommunismus nie relativiert. Die Neugestaltung der Welt scheint ihn zu begeistern. Vielleicht verbindet diese Begeisterung beide Lebenshälften? Vielleicht kann gerade einem Jugendstilkünstler, der von der Idee der Gestaltung der Welt besessen ist, so etwas passieren; gerade einem, der jung so erfolgreich ist, wie Vogeler… wenn ein Weltkrieg dann ausbricht, … In Biografien, die sein Leben beschreiben, liest man von einer 180 Grad Wende, vom bürgerlichen zum kommunistischen Leben. Aber tendiert der Jugendstil, tendiert die Verbindung von Kunsthandwerk und Kunst nicht gerade, da sie den Alltag und das ganze Leben durchwirken und gestalten will – wenn auch nicht notwendig, aber doch plausibel – zum Kommunismus, insofern als auch dieser die Welt verändern und gestalten will? Gibt es einen Faden vom jungen Vogeler, der in seinem Barkenhoff, seinem eigenen „Staat“, nichts unangefasst lässt, zum Kommunismus? …vielleicht ist aber auch alles nicht abstimmbar und bestimmbar. Vogeler entkommt uns. Vogeler stammt aus einer heute fernen Zeit. Und die Zeit, in der angefangen wurde, über ihn zu schreiben und zu forschen, ist auch fern.

Vielleicht ist ein Leben nicht stimmig, bildet kein Ganzes, das zu einem Bild, einem Bericht verdichtet werden kann. Man verdoppelt, überträgt, transformiert. Man erzeugt Nahverhältnisse, nivelliert Distanzen, man gruppiert Zerstreutes, verbindet Sachen, die mit dem Rücken zueinander lagen und erzeugt Gebilde, in denen sich mehr trennt als verbindet – es ist eine eigene Poetik, und eine eigene Poesie hat die Erzählung und Inszenierung von Leben. Der Detektivroman hat mit und in der bürgerlichen Kultur des 19. Jahrhunderts seine Blütezeit, und in der Literaturtheorie wird das mit der Mentalität der bürgerlichen Kultur begründet: Das Leben eines anderen wird zum Fall, den wir untersuchen. Die Kriminalistik, die Geschichtsschreibung und die Archäologie sind seit jeher Verwandte. Die Methoden der Forensik wandern in jüngerer Zeit immer stärker in die der Geschichtswissenschaft. Hausdurchsuchungen und Spurensicherungen führen wir durch in den Leben der Anderen. Wer gab uns den Befehl, welcher Staatsanwalt gab uns den „Beschluss“? Unser Mandat ist schwer zu bestimmen.

VII.
Eine stille Provokation liegt in der Verunsicherung und in der Erhöhung der Komplexität in Alexander Steigs Arbeiten zum Künstler Vogeler. In dessen ständiger Ausstellung im Nachbarhaus dagegen werden feststellende Sätze formuliert: „Vogeler hat…“, „Vogeler war…“. Dort werden Einstellungen vorgenommen, Ermittlungsergebnisse werden präsentiert: Daten, Taten, Vorgänge, Werke werden gebildet und zu einem Gefüge. Steig hingegen erkundet die Bilder. Er geht an sie nah ran, ändert das Framing, verschiebt und verdoppelt ihren Ort und verändert ihre Zeit. Steigs „Einstellungen“ setzen an der Poetik der Ausstellung selbst an. Er stellt die Objekte und Dokumente, die er benutzt, durch die Close-Circuit-Installationen unter Bedingungen, die sie in Bewegung bringen. Sie verlieren ihren dokumentierenden Charakter. Sie werden zu Orten, von denen viele Wege ausgehen. Auf diese Dinge und die Wege, die sie bilden richtet sich der Blick der Arbeiten in der Ausstellung „Geliehene Ansichten“. Steig macht nicht Vogeler, sondern die dokumentarischen Objekte zum Gegenstand der Betrachtung.

Steig sucht aber nicht den Konflikt, er richtet seine Arbeit nicht gegen die Dauerausstellung. Wahrscheinlich hatte er diesen Gedanken nie. Und dennoch: Subtil, unbemerkt vielleicht von ihm selbst, eröffnet er eine Kritik der Dokumente und eine Kritik der Praxis biografischer Ausstellung, wie sie nebenan stattfindet. In keinem Raum vielleicht war Vogeler aber so lebendig, wie in dieser behutsam tastenden Ausstellungsbeitrag von Alexander Steig. Ungreifbar, weil keine Daten, keine Fakten Griffe bildeten. Aber weil Vogeler in so respektvoller Distanz dargeboten wurde, hat er eine Lebendigkeit gewonnen, die er in den Archiven und Katalogen niemals gewinnen kann. Er gehört uns nicht in diesen 5 Einstellungen, es sind geliehene Ansichten. Gerade dass er uns nicht gehört, macht ihn so lebendig! Denn das Lebendige ist das, was uns nicht gehört. Wer sich einer Person, einer Sache nähert, muss das voller Angst tun, voller Respekt. Die edelste Form der Furcht ist die Ehrfurcht. Aber nicht der andere gebietet es, sondern es gebietet sich uns selbst. Es geht nämlich um unsere eigene Lebendigkeit! Im Umgang mit dem Anderen, in der Ehrfurcht kultivieren wir unsere Seelen, unsere Sinne. Die Ehrfurcht und der Respekt, den wir zollen, zollen wir immer und auch zuerst uns. Wie wir mit der Welt umgehen, so gehen wir in ihr um. Die Einstellungen wenden sich zurück auf uns, uns stellen wir ein. Wenn wir diesen Fluss der Bilder im Kreislauf betrachten, zeigt sich etwas, was wir in Dokumenten nicht sehen können. Die Sphäre des Ästhetischen entrückt die Bilder und entrückt unseren Blick. Der Abstand öffnet uns die Augen. Eine tiefere Dimension einer Philosophie der Close Circuit-Installation liegt darin, dass sie die Einstellung in einen Prozess bringt und in eine unendliche Folge von Blicken multipliziert.

VIII.
Gilles Deleuze hat in seinem Buch Differenz und Wiederholung geschrieben, dass die Vielfältigkeit der Perspektiven in den Künsten immer radikal sein muss: „Jede Perspektive oder jeder Blickpunkt muss einem autonomen Werk entsprechen, das einen hinreichenden Sinn hat: Was zählt, ist die Divergenz von Serien, die Dezentrierung der Kreise, das Monster [le monstre].“ (Übers. SF.)[7] Das Monster erscheint hier als Emphase, als das Singuläre, das ohne Klassifizierung und ohne Kategorie, das was sich zeigt und was nicht erkannt werden kann.

In einigen Übersetzungen der Deleuze-Stelle ist „le monstre“ übersetzt mit „Ungeheuer“. Das germanisch bzw. althochdeutschstämmige Wort „Ungeheuer“ ist dem Unheimlichen nicht unähnlich: Das Wort un-geheuer ist ein Gegensatz zu „geheuer“ (gehiure), das bedeutet behaglich, sanft, friedlich; „un-geuer“ bedeutet also un-behaglich, un-sanft, un-friedlich. Das germanische Wort ist ganz ähnlich dem Unheimlichen, das wie gesagt nach Siegmund Freud eine fremd gewordene Wiederkehr des einst Häuslich-Heimischen ist. Bei Freud ist auch der zusätzliche Sinn der „heimlichen“, also verborgenen Dinge von Bedeutung, da es sich dann um Unbewusstes handelt. Um Komponenten des Heimlichen, Verheimlichten, Verborgenen geht es nun ja auch dem Dekonstruktivismus, um die Monster, die Ausgeschlossenen, die Fremden, Verheimlichten usw.

Der afrikanische Philosoph und Kirchenvater Augustinus beschreibt in seinem Werk De Civitate dei– vom Gottesstaat (um 420 n. C.), in dem er den großen göttlichen Heilsplan des gesamten Weltenlaufs beschreibt, auch Monster und Wunderwesen. Monster sind bei Augustinus nun gerade nicht vom Schöpfungsplan ausgeschlossene Wesen, aus der Logik der Allmacht Gottes und seiner umfassenden Schöpferkraft heraus können sie nur Geschöpfe Gottes sein. Sie gehören also zur Welt und somit auch zum Heilsplan. Sie begegnen den Menschen aus einem Bereich des höheren göttlichen Wissens, das das Fassungs- und Erklärungsvermögen der Menschen übersteigt und höher ist als menschliche Vernunft. Monster treten uns demnach also entgegen als Geschöpfe aus einem Bereich der Schöpfung, in den wir Menschen keine Einsicht haben, und so erinnern sie uns an die Größe Gottes. Sie zeigen (monstrare) uns die Größe und unendlich vielfältige Unübersichtlichkeit der Schöpfung, und sie gemahnen uns an die Grenzen unserer Erkenntnis. Nach Augustinus ermahnen sie uns, den Glauben höher zu schätzen als das Wissen und ermahnen uns an den Glauben und die Liebe Gottes. Von Deleuze her bringt die Kunst solche Ereignisse hervor, Monster, die unsere Kategorien und unser Wissen übersteigen. Hier berühren sich Dekonstruktivismus, Monster-Theory und frühchristliche Philosophie bzw. Theologie. Man kann sie zu einem Kreis zusammenschließen.

Indem nun Alexander Steig in seinen Arbeiten die Einstellungen in den Dokumenten, die er verwendet durch das videotechnische Close-Circuit-Verfahren aus der Fest- bzw. Stillstellung holt, führt er uns auf eine Bahn, die die Objekte immer wieder in sich selbst zurücklaufen lassen, in einer unendlichen Folge von Bildern, aus der eine unendliche Folge von Blicken und Einstellungen hervorgeht. Der dokumentarische Blick löst sich auf. Vogeler geht verloren. Wir hören auf zu erfahren, wer Vogeler war, und wir hören auf zu wissen, wer Vogeler ist. Mit der Fremdheit aber wachsen Ehrfurcht und Respekt, und möglich wird ein Gespräch mit den Bildern und Objekten und dem, was wir darauf und darin sehen. Weil wir sie nicht mehr erkennen können, werden sie unheimlich, werden sie ungeheuer: Monster. In den unendlichen Einstellungen, zu denen die „5 Einstellungen“ werden, hören die Objekte auf, Wissen zu produzieren. Die Kunst eröffnet hier – vielleicht immer? – einen Raum für den Dialog, für eine Beziehung. Nicht mehr über Vogeler, über den Jugendstilkünstler, müssen wir, sondern mit Vogeler, mit dem Monster, müssen wir sprechen.

Auch wenn es „nur“ bei seiner Nominierung für den Paula-Modersohn-Becker-Kunstpreis blieb, hat Alexander Steig einen künstlerischen, vielleicht kulturpädagogisch ergänzten Ansatz entwickelt, die Worpsweder Künstler und Künstlerinnen wenigstens für eine kurze Zeit aus den Domestikationsvitrinen der Musealisierung herauszuholen, in denen sie lediglich bildungsbeflissenes Interesse wecken (welches touristisch für die Region zweifellos notwendig und fruchtbar ist). Eigentlich nämlich müssten sie uns erschrecken, diese Reformerinnen und Reformer in ihrem Ringen und ihrer Unbedingtheit, in der sie lebten für die Kunst. Ihre Existenzen, ihre unbegreiflichen Lebensweisen müssten uns eigentlich – und sollten – ratlos machen in ihrer Unfassbarkeit und Unerreichbarkeit, damit wir vielleicht von einer begriffslosen Ahnung ihrer Ferne angeweht werden und aus dieser Ferne ein Gefühl entwickeln können – wenn auch, und gerade ein unverständliches – für das, was sie wollten, taten und lebten.

Simon Frisch (Weimar)

[1] „Er hat die Türgriffe entworfen, er hat die Tapeten entworfen, seine spätere Frau hat er in selbstentworfene Kleider gesteckt. Er hat das Mobiliar entworfen, den Schmuck, die Gläser, das Besteck, das Porzellan, also eigentlich alles, was man sich in seinem Leben so vorstellt, was einen umgibt.“ (Beate Arnold in: Heinrich Vogeler – Worpsweder Jugendstil-Künstler und politischer Aktivist, von Berit Hempel. Redaktion: Vera Kern Regie: Günter Maurer, SWR2 Wissen, 8.12.2022. www.swr.de/swr2/wissen/heinrich-vogeler-worpsweder-jugendstil-kuenstler-und-politischer-aktivist-swr2-wissen-2022-12-08-102.pdf. Hier: S.4. Aufgerufen am 22. Juli 2023.
[2] Wim Wenders: Der Tod ist keine Lösung. In: DER SPIEGEL Nr. 33, Hamburg 1976, S. 92.
[3] Ebd.
[4] Das Closed-Circuit-Verfahren ist eine Videotechnik, die seit den 1970er Jahren von Künstler:innen eingesetzt wird. Es bezeichnet die unmittelbare Signalübertragung mit Rückkopplung zwischen Aufnahme- und Wiedergabegerät. Formal gesehen handelt es sich dabei in Steigs Œuvre mehrheitlich um scheinbare oder tatsächliche Closed-Circuit-Videoinstallationen, deren medienspezifische Signifikanz innerhalb skulptural-räumlicher Elemente die Live-Übertragung im Installationszusammenhang darstellt. Eine kunsthistorische Einordnung seiner Arbeit findet sich in der 2005 beim LOGOS-Verlag in Berlin erschienenen Publikation „Closed Circuit Videoinstallationen: Zur Geschichte und Theorie der Medienkunst“ von Slavko Kacunco.
[5] Faust V, Verse 577 f.
[6] Roland Barthes: Die helle Kammer, Abschnitt 33.
[7] „Il ne suffit pas de multiplier les perspectives pour faire du perspectivisme. Il faut qu'à chaque perspective ou point de vue corresponde une œuvre autonome, ayant un sens suffisant: ce qui compte est la divergence des séries, le décentrement des cercles, le monstre.“ Gilles Deleuze: Différence et Répétition, Paris, 1968. S. 94.

(Katalog: Alexander Steig - Geliehene Ansichten - 5 Einstellungen zu Johann Heinrich Vogeler)

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